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Der Mann schlaeft

Der Mann schlaeft

Titel: Der Mann schlaeft
Autoren: Sibylle Berg
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entkommen, das sich als mit mir verwandt ausgab und mir seine albernen Prinzipien aufzwingen wollte. Um Menschen, die von wunderbaren Kindheiten berichteten, von Kuchenduft und Abenteuern in Lederhosen, wusste ich immer große Haken zu schlagen. Sie würden nie meine Freunde sein. Schienen sie doch zu sagen: »Ich liebe es, abhängig zu sein, geregelte Abläufe zu haben und betreut zu werden.« Sie verbringen ihr Leben meist in Angestelltenverhältnissen und warten, dass sie endlich ins Pflegeheim können und sich ihr Kreis schließt.
    Ich habe es gehasst, ein Kind zu sein, und ich fand es furchtbar, eine Jugendliche zu werden. Sicher gab es da Momente im Stehen und Warten und Hoffen und Unendlichsein und Schwalben-Hören, immer diese Schwalben mit ihrem Pfeifen, und sich in den Himmel schrauben mit ihnen und denken, alles sei möglich. Doch das meiste war Schmerz und Unglück, weil ich von der Unendlichkeit überfordert schien. Das jedenfalls glaubte ich damals, jetzt nehme ich an, dass man bereits in der Jugend die Begrenzung wittert, den Verfall, das Ende, das man besichtigen kann, bei allen, deren Entwürfe so stereotyp waren, und nirgends ein Vorbild.
    So überwältigt wie jenes erste Mal, da man einen Geliebten anfasst, der schwitzt und noch nach Kind riecht, wird man nie mehr sein. So aufregend wie vor dem Sex wird der Sex nie wieder sein, so romantisch und heilig und grenzenlos. So riesig wird man nie mehr, wie in Momenten, da man über Wiesen lief im Herbst und die Luft nach Feuer roch und man glaubte, das Leben wäre etwas, das nur auf einen wartete. So großartig wie vor dem Leben wird das Leben nie mehr.
    Ich hatte spät gemerkt, dass ich erwachsen geworden war. Hatte mich gewundert über die anhaltende Traurigkeit und erst nach Jahren herausgefunden, dass es die verschwundene Hoffnung war und der abhandengekommene Glauben an ein Wunder, was mich fühlen ließ, als watete ich durch etwas nicht wirklich Unangenehmes, aber doch Zähes, vom Morgen an.
    Es war mir nicht gelungen, das Wissen, dass mir nicht zustand, in Freiheit umzuwandeln.
    So verging die Zeit zwischen Jugend und beginnendem Alter mit guten Momenten, die sich manchmal einstellten, als ich entschied, wovon ich leben würde, als ich erleichtert erkannte, dass sich kaum einer für mich interessierte, in der ersten Nacht in einem teuren Hotel, so einem mit Buchsbäumen und goldenem Licht, als ich dort auf dem Bett lag und auf die Stadt schaute und dachte, ich könnte tun, was ihr tut, aber ich bin jung und ich brauche das nicht, die Hotels nicht, die Kreditkarten nicht, die albernen Designerkleider nicht.
    Von erfüllten Sekunden abgesehen, saß ich meist in meiner Wohnung und hatte keine Ahnung, wie man sich verhalten sollte darin. Ich versuchte erwachsenes Sitzen und Gehen undaus dem Fenster Schauen, doch es fühlte sich falsch an, nachgestellt, das Wohnen war mir egal und ich war mir egal, und vermutlich das Schmerzhafteste dieser zehn Jahre war, dass es nichts gab, was mich entzünden konnte. Dass da keine Kunst in mir gewesen war, die ich hätte entäußern müssen, keine Liebe zu jemandem, keine Leidenschaft. Alles blieb verschwommen, das war mein Leben, und ich – eine zweidimensionale Figur darin.
    Heute denke ich, die Jahre zwischen dreißig und vierzig hätten die besten sein können, wenn ich um ihre Einmaligkeit gewusst hätte, wenn ich nur gewusst hätte, was ich heute weiß, wie es sich anfühlt, die Erkenntnis des Verfalls, der Endlichkeit, wie es einen müde macht, die Albernheit zu verstehen, unsichtbar zu werden, auch für sich selber.
    Ich hatte aufgehört zu träumen, von Freitreppen, auf denen ich in mein Schloss wandeln würde, Friedensnobelpreisen oder der Begegnung mit der großen Liebe. Dazu hatte ich sie schon zu oft getroffen. Dem ungeheuren Theater, das uns allen ständig als Gradmesser der eigenen Gefühle vorgeführt wird, misstraute ich bereits nach dem Ende der Pubertät.
    Da musste immer Besinnungslosigkeit sein und Kontrollverlust, Auflösung und unbedingt Seelenverwandtschaft. Alles Zustände, die mir zuwider waren. Ich fand meine Seele nicht so überragend, dass ich mir noch einen mit den gleichen Unfähigkeiten gewünscht hätte.
    Liebe wurde in der öffentlichen Wahrnehmung mit etwas Pathologischem gleichgesetzt und hatte mit weggebissener Unterwäsche und Schweiß zu tun. Dass es sich im besseren Fall um etwas Familiäres, Freundschaftliches handelte, war eine unpopuläre Idee.
    Ich gehörte der Generation
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