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Der Mann schlaeft

Der Mann schlaeft

Titel: Der Mann schlaeft
Autoren: Sibylle Berg
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miteinander leben, die sich offenkundig nicht besonders mögen.
    »Ich muss heim, mich hinlegen, die Wechseljahre, du weißt schon ...«, sagte ich und schwankte aus der Wohnung. Ich konnte den Anblick des Mannes nicht eine Sekunde länger ertragen, und das hieß wohl, dass ich doch wieder einen Bekannten weniger hatte. Ich lief auf seltsam leeren Bürgersteigen nach Hause.
    Meine Wohnung war eine Insel geworden, ich hatte mich so angenehm eingerichtet, dass ich sie kaum noch verlassen musste. Das Paradoxe meines Lebens bestand darin, dass mein Verstand ausreichte zu erkennen, dass jeder Versuch, sich selber zu überhöhen, lächerlich war. Aber er war nicht brillant genug, um mir eine Alternative zu zeigen. Die einen suchten also immer noch draußen nach Erlösung. Ich hatte aufgegeben und wartete drinnen, dass ich irgendwann müde genug werden mochte. Kein Richtig oder Falsch.

Heute.
Tag.
    Das Meer gleicht einer Pfütze in Wuppertal, der graue Himmel spiegelt sich in grauer Suppe, dabei ist es warm, und wie jeden Tag wird es gegen Mittag hell werden, die Sonne wird sich den Weg durch die Abgase bahnen, die vom chinesischen Festland hierhergeschoben werden, dann wird es Wolken geben und Blau und Gelb, und die Hitze wird drückend werden. Jetzt ist es feucht und unklar und nirgends etwas, das mich an zu Hause erinnert. Vielleicht die Stimmung, vor dem Frühling, wenn schon Wärme in der Erde steckt und Vögel verrückt werden. Auf einmal wird die Sehnsucht nach meinem alten Leben so groß, dass ich nicht mehr atmen kann. Ich komme zu mir und liege auf der Bank, das Meer schräg am Horizont. Der Körper war freundlich zu mir und hat das Licht ausgeschaltet. Ich versuche mich abzulenken; nicht wieder daran denken, nicht an die Abende denken, da ich mich gefreut habe, ins Bett zu gehen, weil es hieß, ich konnte mich auf ihn legen, mein Gesicht an die Stelle am Hals, wo man den Puls fühlt. Wie das beruhigte: einzuschlafen, gehoben, gesenkt, und das Klopfen des Blutes. Warum kommt mir dieses Bild vollkommenen Aufgehobenseins immer wieder, diese masochistische Quälerei! Was hilft es mir, kaum mehr atmen zu können, sterben werde ich nicht daran. Ich sehe angestrengt das Meer an, das mir schon immer auf die Nerven ging. Es macht Lärm. Am Horizont Schiffe, hinter den Schiffen China und dann Russland und links um die Ecke Europa.
    Es stört mich nicht, so weit weg von zu Hause zu sein. Es gibt kein Zuhause mehr. Jeder Ort, an dem ich mich aufhalte, ist gleich. Jeder Ort, an dem der Mann nicht ist.

Damals.
Vor vier Jahren.
    Gibt es einen größeren Witz als den Menschen? Emotionale Krüppel in abstoßenden Hüllen, der Welt, dem Rudel, dem Wetter, den Gewalten hilflos ausgeliefert, torkeln wir durch ein Dasein, das an Lächerlichkeit nicht zu überbieten ist. All unsere ernsthaften Versuche, die Welt zu verstehen, charakterlich integre Personen zu werden, Besitz anzuhäufen, die Umwelt zu retten, Doktortitel zu erwerben, enden mit verschissenen Windeln im Altersheim.
    Die Zukunft wird besser, ohne Aids und mit wunderbar funktionierenden Prothesen, weniger Schadstoffen und Windeln, die nicht auftragen. Vielleicht werden die nach uns schon hundertzwanzig Jahre leben. Was für eine wundervolle Vorstellung, und doch, wie viel Zeit davon kann einer bewusst genießen? Wie viele gute Momente?
    Ist es ein Leben auf der falschen Seite der Erde, auf der falschen Seite der Straße, im falschen Bezirk, mit den falschen Eltern, dann gibt es, alles in allem, vielleicht einen guten Monat – wenn die Drogen wirken, wenn man sich vereinigt, verliebt, etwas zu essen hat. Mehr wird nicht geliefert. Ja, Sie haben hier unterzeichnet, ein Monat Glück, dafür dürfen Sie dann noch vierzig Jahre weitermachen, ehe sie erschossen werden oder an Aids sterben, an Krieg, an Hunger, an schlechten Karten.
    Ich hatte das große Los gezogen, denn ich war durch Willkür auf der richtigen Seite geboren und brachte es im Verlaufemeines Lebens sicher auf fünf bewusst glückliche Jahre. Nicht am Anfang. Sicher nicht.
    Die Kindheit in Abhängigkeit. Das vorherrschende Gefühl: Wut. So wie mir später klar wurde, dass ich nie unter einem Vorgesetzten würde arbeiten können, verstand ich, sowie mein Gehirn Affenkapazität erreichte, nach den ersten Gemüsejahren, dass ich Mühe mit Autoritätspersonen hatte. Für ein Kind eine unangenehme Situation, denn ich wusste, dass es nur in meiner Macht stand abzuwarten, bis ich alt genug war, um dem Paar zu
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