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Der Mann schlaeft

Der Mann schlaeft

Titel: Der Mann schlaeft
Autoren: Sibylle Berg
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Person zu werden, mit schlechtem Geruch und gelber Ausstrahlung.
    Es war so leicht, sich in einen verkommenen Zustand zubegeben, man brauchte nur einen Schritt, ein Loslassen, und schon saß man keifend vor dem Kaufhaus mit einer Flasche Brennspiritus in der Hand.
    Ich blickte, auf der Schwelle stehend, in den Raum, ins Bett, auf die hundertzehn Kilo darin, die keine Geräusche machten. Manchmal hielt ich dem Mann die Nase zu, denn ich wollte sehen, ob er noch lebte. Normalerweise: ja.
    Ich nannte ihn nur »der Mann«, damit er nicht verschwinden würde, da sich doch meist alles, dem man einen Namen gibt, entfernt.
    Er war die Antwort auf alle Fragen, die ich mir, bevor wir uns trafen, nicht gestellt hatte. Sie waren unklar immer da gewesen, wie ein Hunger, und ich hatte sie Sehnsucht genannt, und Heimweh.
    Dass alles, was das Leben an Großartigem für mich bereithalten würde, nur ein Mensch war, hätte mich beschämen können, doch es war mir völlig unwichtig, vor mir selber glänzend dazustehen.
    Zum Glück! Denn sonst hätte ich den Tisch mit silbernen Kerzenleuchtern decken müssen, zu klassischer Musik, ich würde gut riechende Plunderteigstücke aus dem Umluftofen nehmen, sie mit selbsteingekochter biologischer Konfitüre bestreichen, und die Kinder rufen: Rainald, Beatrice, poschalista. Die Kinder würden multilingual aufwachsen und ausschließlich Sprachen beherrschen, die ich nicht verstand. Mein Mann käme zu Tisch, und er trüge einen Kaschmirschal um den Hals, unter dem er offene und sehr rare Geschwüre versteckt hielte.
    Ich war froh, dass ich nicht dem Zwang unterlag, einem Bild entsprechen zu müssen, das ich mir von mir gemacht hatte.
    An jenen Tag, der die Persiflage eines Winters war, erinnere ich mich, weil ich damals so glücklich war, dass ich fast traurig wurde, denn ich wusste, dass einem alles genommen wird, was Glück erzeugt.
    Der Mann öffnete die Augen und war sofort anwesend. Da gab es kein langsames Zusichkommen – wo bin ich, was tue ich hier –, er wachte auf, sein Blick suchte mich, dann entspannte er sich, weil ich war da, und alles gut damit. Er rollte sich aus auf den Rücken wie ein Walfisch, der von weinenden amerikanischen Frauen ins Meer zurückbefördert wird. Alles an ihm war groß und rund, die Augen, die Füße, der Körper, er wirkte wie ein Spielzeug für Kinder, das man in die Badewanne legt und das über Nacht das Zehnfache seiner eigentlichen Größe erreicht.
    Ich hatte keine Ahnung, was er dachte, was er vom Leben wollte, es interessierte mich nicht, ihm Fragen zu stellen, denn zum einen hatte ich schon alles gehört, was Menschen mir von ihren Plänen, Ideen, Projekten, Gefühlen, Verletzungen, Ängsten und Fähigkeiten zu berichten wussten, zum anderen würde er nur die Schultern zucken und antworten: »Keine Ahnung. Vielleicht sind wir morgen tot.«
    Ich hatte ihn gerne, auf eine bedingungslose Art, und vielleicht empfand er dasselbe für mich, ich würde es durch Fragen nicht herausfinden. Ich misstraute den Worten. Und erfreute mich umso mehr daran, dass der Mann erschrak, wenn ich stolperte, dass er sofort aus seiner Lethargie erwachte, wenn mich scheinbar etwas bedrohte, und dass er mich trug, wenn ich müde war. Ich war alt genug zu wissen, dass es Glück ist, einen zu treffen, den man so gern hat, dass er einen nie stört.
    Ich hatte zu viele befremdliche, kurze Liebesgeschichten hinter mir, und ich wusste, dass es sehr selten war, dass sich zwei mit der gleichen Müdigkeit und dem Wunsch, nicht allein zu sterben, erkannten.
    Sicher konnte man es Resignation nennen, nicht mehr auf ein Wunder zu warten, doch für mich hatte Hoffen immer Ohnmacht bedeutet.
    Draußen ging ein kleiner Regen; in eiskalten Fäden verschleierte er den Blick auf das Nachbarhaus, aus dem die Insekten verschwunden waren, die Lichter gelöscht, der Rauch verstummt. Ich ging nochmals zu Bett, einfach weil ich es konnte und weil da dieser Mann war, der mein Zubettgehen nicht allzu verzweifelt erscheinen ließ. Wir sollten verreisen, dachte ich, als ich auf den Bauch des Mannes kletterte, der wie ein Mittelgebirge war, um mich daraufzulegen. Verreisen. Und das war ganz sicher der dümmste Gedanke, den ich in meinem ganzen Leben gehabt habe. Damals im Winter, an diesem Morgen, der immer noch besser war als alles, was folgen sollte.

Heute.
Nacht.
    Es wird nie vollkommen dunkel im Raum, der Mond, die Laternen, die Läden machen das, die Luft ist immer ein wenig klamm und feucht,
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