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Der Mann schlaeft

Der Mann schlaeft

Titel: Der Mann schlaeft
Autoren: Sibylle Berg
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Bekannte war mir nie nähergekommen, geschweige denn ans Herz gewachsen, und ich wurde in ihrer Gegenwart jeweils nach einer Minute leer und traurig, gerade so, als würde mir erst durch sie klar, dass ich einen Menschen vermisste, durch den ich mich nicht einsam fühlte.
    Verabschiedete sie sich, war es immer, als wäre eine Regenwolke abgezogen.
    Sie war ein Mensch, den nichts auch nur für eine kurze Zeit glücklich machen konnte. Ich glaube, sie hatte das Gefühl, wunschlos zu sein, nie kennengelernt. Es gab nichts, was sie nicht auf sich bezog; sah sie eine schöne Landschaft, so erschien es ihr ungerecht, dass sie darin kein Haus besaß.
    Das Unangenehmste an ihr war jedoch die Entschlossenheit, sich in meinem Leben aufzuhalten. Sie besuchte mich, und wenn ich nicht da war, saß sie stundenlang vor meiner Tür, bis ich irgendwann auftauchte. Dann rollte sie sich in erstaunlicher Behendigkeit auf die Füße und drückte sich an mir vorbei in die Wohnung, um dort sofort in einen Sessel zu fallen. Sie wirkte, als sei sie mit ihm verwachsen, streifte ihre Schuhe von den geschwollenen Füßen und begann ohne Unterlass zu reden. »Ich plane, nach Burundi zu gehen ...« Als ich, beflügelt ob dieser wunderbaren Idee, zusammenzuckte, fuhr sie fort: »Die armen Menschen da brauchen Unterstützung. Ich werde in einem Hilfswerk tätig sein, im Dschungelauf einer Campingliege schlafen, und helfen werde ich, helfen, helfen. Ich werde Kinder auf den Knien wiegen und Brunnen graben.« Ich gestattete mir nur innerlich die Frage, mit welchem Spezialwissen sie denn den Einwohnern von Burundi überlegen sei, die seltsame Bekannte dozierte währenddessen über die Politik Amerikas, von der sie keine Ahnung hatte, und gelangte über die Achse Russland–Irak zu unterdrückenden Männern und Beziehungsfragen im Allgemeinen. »Die Männer haben doch Angst vor starken Frauen«, hörte ich noch, bevor ich mich, wie meist in ohnmächtiger Lage, zu jener alten Frau am Tümpel begab, die in mir wohnte. »Es ist schwer, sich selber zu erkennen«, sagte die Alte spinnend am Rad. »Wenn du denkst, alle anderen seien erbärmliche Dummköpfe, so ist das dein gutes Recht. Doch warum solltest einzig du eine Ausnahme sein.«
    Als ich aus dem Exil zurück in die Realität schwamm, befand die seltsame Bekannte sich immer noch auf meinem Sessel, Ärzte würden sie an den Oberschenkeln aus dem Gewebe des Polsters schneiden müssen. Ich bemerkte, dass der Frau Haare am Kinn wuchsen, fast vermeinte ich, ihnen dabei zuschauen zu können. Die seltsame Bekannte berichtete von ihrem Gefühl, auf das sie sich immer verlassen könnte; in welcher Hinsicht, hatte ich über der Betrachtung der Bartstoppeln verpasst. Ich fragte mich, wie es ihr ging, innen, da, wo sie zu Hause war. Wie das sein mochte, sich immer betrogen zu fühlen und ungerecht behandelt, wie es sich anfühlte, sich morgens zu sehen, mit diesem Bart. Drei Menschen hatte ich an jenem Abend ertragen müssen, und mit keinem von ihnen verband mich etwas Wärmendes. Die zwischenmenschliche Bilanz meines Lebens war erschütternd.
    Irgendwann, nach viel zu langen Stunden, war die seltsame Bekannte in der Nacht verschwunden, ich hatte alle Fenster geöffnet, um ihren Geruch zu vertreiben, saß frierend auf meinem Bett und fragte mich, wie man es eigentlich richtig machen soll.

Heute.
Mittag.
    Auf halbem Weg zwischen Strand und Dorf befindet sich die Puddingküche. Man kann sie nicht verfehlen, wenn man sich einer der großen Gruppen aufgeregter asiatischer Menschen anschließt, die sich täglich auf dem engen Weg zum Strand drängen. In einem alten Haus neben dem Weg wird auf offenem Feuer in großen Eisenkübeln Sojapudding gekocht, die werden dann über den Weg geschleppt und auf einen alten Holztisch gestellt. Jeden Tag, gegen Mittag und am späten Nachmittag, stehen lange Schlangen vor dem Holztisch: Schulkinder, chinesische Tagestouristen, selten Ausländer, sie fürchten sich wohl vor der glibberigen, nicht identifizierbaren Masse.
    Ein altes Paar verteilt den Pudding fast gönnerhaft in Plastikschalen, die beiden wirken rührend, wie einander zugewandte Präparate in Flüssigkeit. Sie betreiben das Puddingrestaurant seit fünfzig Jahren, schleppen und kochen können heute die Enkelkinder, sie teilen nur noch aus, das Königspaar der Puddingdynastie.
    Die langen Bänke vor den Holztischen sind immer dicht besetzt von puddingessenden Chinesen, die mit eigenartiger Hektik braunen Zucker auf den
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