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Der Mann schlaeft

Der Mann schlaeft

Titel: Der Mann schlaeft
Autoren: Sibylle Berg
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doch hinzugehen, um einen Affront zu vermeiden.
    Mein Tag war vergiftet von dieser Entscheidung, und das Alleinsein, das ich eigentlich hätte genießen können, war nur mehr Warten auf einen Zug, gefüllt mit einer Karnevalsgesellschaft, die ich bei mir beherbergen musste, vierzehn Tage lang.
    Jeder ist so erstaunlich individuell, wurde uns in jungen Jahren erzählt, um uns vom Selbstmord abzuhalten. Auch so eine Unsitte. Menschen ihrer letzten Freiheit berauben. Selbstmordversuch und ab in die geschlossene Abteilung, gefesselt und überwacht, egal wie alt man ist, ohne Rücksichtnahme, ob einer seine evolutionäre Pflicht schon erfüllt hat oder nicht. Gelebt muss werden, da könnte ja sonst jeder kommen. Die Steuern, die Armee, der Nachwuchs, die Evolution. Dieses kollektive Zusammenzucken, wenn vom freiwilligen Abschied die Rede war, hätte man nicht das Gespräch suchen können, therapieren können, den Unglücklichen abhalten, ihn zwingen, die achtzig Jahre abzusitzen?
    Da der Tag ohnehin verdorben war, ging ich zu den Freunden, die mich trotz meines Widerstands eingeladen hatten.
    Ich schnallte mir meine beiden Prothesen an und überlegte, wie ein Mensch mit vier Gliedmaßenprothesen die wohl anlegen wollte. Der Abend war dunstig, und die Freunde lebten in einem Haus, das man spätestens in dreißig Jahren zu Recht abreißen würde. Im Moment verkörperte es das, was der Mensch unter modernem Wohnen verstand. Sichtbeton und quadratische Balkone. Innen gab es immer eine graue Küche, in der die Gastgeber standen und Wein tranken, wobei sie sich mit Tiernamen ansprachen, was vielen schon als ausreichender Grund erschienen wäre, mit beiden nicht mehr zu verkehren, für mich jedoch war es das Einzige, was mich den Abend überleben ließ.
    Was mich wirklich aus der Fassung brachte, war, dass in ihrem Schlafzimmer ein riesiger Schrank mit verspiegelten Türen genau dem Bett gegenüber stand und ein weiterer Spiegel an der Decke hing.
    Der Weg durch das Schlafzimmer war der einzige, um ins Badezimmer zu gelangen, das ich während der Abende mit dem Paar alle halbe Stunde aufsuchte, um mich mit kaltem Wasser vom Einschlafen abzuhalten. Ich möchte nicht wissen, wie fremde Menschen schlafen oder gar miteinander geschlechtlich werden und sich dabei in Spiegeln beobachten. Jeder Hausbesuch bringt ungewollte Bilder mit sich. Die Toilette, was da in den Schränken steht, die Fieberthermometer, das Toilettenpapier, die Küche mit Knoblauchgeruch, Fußmatten vor dem Bett, Hausschuhe mit durchgetretener Sohle – ich will das alles nicht erfahren, ich will niemanden an meinem Leben dergestalt teilhaben lassen, und auch im umgekehrten Fall weiß ich nicht, was ich mit derlei Informationen anfangen soll. Es verstörte mich, mit dem Paar, das gutgeputzten Mäusen glich, am Tisch zu sitzen, kleine Gurken zu essen und immer zu denken: der Spiegel. Was machen sie mit diesem Spiegel? Gegen weitergehende Gedanken war ich machtlos.
    Ich sah ständig meterhohe Wassermassen, die über Häusern auftauchen, große Greifvögel mit Babys in den Krallen, die sie aus Kinderwagen entwendet hatten, oder kleine Menschenvölker, die in Ritzen zwischen Dielen leben. Ein Gehirndefekt vermutlich, dem ich hilflos ausgeliefert war.
    Wir saßen an einem Esstisch aus poliertem Material, überall standen kleine Kommoden mit grotesk grünen Vasen, und es gab eine sehr große weiße Couchgarnitur, die wie ein grimmiger Albino-Elefant den Raum beherrschte; alles sah aus, wie wenig phantasiebegabte Kinder sich eine Erwachsenenwohnung einrichten würden. Menschen, selbst freundlich gesinnte, in seine Wohnung einzuladen ist ein sadistischer Akt.Vermeintlich ohne nachzudenken, aus reiner Zeigefreudigkeit, werden Fremde in Höhlen geschleppt und alles vorgewiesen, was einer im Laufe der Jahre gesammelt hat. Auf mich hat es stets die Wirkung, als müsste ich meinen Eltern bei einer Unterwäschemodenschau beiwohnen.
    Das Paar redete wenig, worüber auch, vermutlich erfolgten ihre reflexartigen Einladungen ausschließlich aus Sentimentalität, eine gefälschte Erinnerungsmatrix gaukelte ihnen vor, dass wir vor zwanzig Jahren wunderbare Momente geteilt hatten, und die galt es wiederherzustellen.
    Sie hatten ausnehmend neutral schmeckende Speisen zubereitet, und ich wurde mit jedem Bissen, den ich nahm, ein Stück tiefer in meinen Körper gezogen, an einen Ort, an dem ein Brunnen auf einer Lichtung stand und eine alte Frau mit einem Spinnrad saß und mit dem Kopf
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