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Der Mann schlaeft

Der Mann schlaeft

Titel: Der Mann schlaeft
Autoren: Sibylle Berg
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Pudding streuen und ihn in Sekunden verschlingen. Dann sitzen sie, wie betäubt, vielleicht fragen sie sich, was sie da gerade getan haben.
    Ich bin jeden Tag hier, schwitzend unter der Decke aus Baumgipfeln, unter der die Feuchtigkeit steht und die Hitze.Vielleicht manifestiert sich die Begeisterung der Menschen und steckt mich an, für Sekunden.
    Es scheint in China keine Alleinstehenden zu geben, bis auf die Rollstuhlfahrerin, die einzige auf der Insel, der ich immer wieder begegne und die ich grüße, weil man hier jedem immer begegnet und grüßt. Sie kommt an meinen Tisch gefahren. Ich hoffe nicht, dass sie ein Gespräch sucht.
    Doch da die Hoffnung immer nur eine aberwitzige Träumerei der Erbärmlichen ist, beginnt die Dame mit mir zu sprechen. Leise plätschert ihr mäßig gutes Englisch dahin, und ich versuche minutenlang, meine Augen auf sie einzustellen. Immer wenn ich kurz davor bin, die Linse zu fokussieren, fällt das Bild in sich zusammen, und die Frau verschwimmt; wie ein Monet-Gemälde sieht sie aus, lächerlich geschminkt, mit blauem Lidschatten, der verzweifelt nach Lidern sucht, einem sehr roten Mund, und ihre Haare sind durch wiederholte Blondierung und Dauerwellen von strohigem Orange.
    »Merken Sie, wie mich alle hier schneiden?« fragt die bunte Frau, und ich merke das natürlich nicht, es ist mir auch völlig egal. »Ich bin die Prostituierte der Insel«, sagt die Frau, die ich nun doch sehen kann, ihre Augen liegen einfach so weit auseinander, dass man Mühe hat, auf einen Punkt in ihrem Gesicht scharf zu stellen. Ich staune nicht schlecht, dass es auf so einer kleinen Insel eine zuständige Prostituierte gibt. »Das ist bestimmt nicht einfach«, sage ich, »Sie kennen doch jeden hier.« – »Und wie ich jeden hier kenne«, erwidert die Frau, die, wie ich nun bemerke, auch einen Goldzahn hat. Danach schweigen wir, ich esse meine Puddingsuppe und stelle mir vor, hier als Hure zu arbeiten. Unter den Frauen machte man sich damit sicher nicht viele Freundinnen, die Männer schautenverschämt zur Seite, wenn man ihnen außerhalb des Bettes begegnete. Keine Ahnung, wie es wäre, bei jedem Mann, dem Arzt, dem Kapitän, dem Apotheker und dem Cafébesitzer, die dazugehörigen Genitalien zu kennen. Ich stelle mir das lange vor und sage nichts mehr. Angenehm an den Chinesen ist, dass sie Schweigen nicht als peinlich zu empfinden scheinen. Aber vermutlich kann ich ihre Gesichter noch weniger lesen als die der Menschen zu Hause. Ich hatte immer Mühe damit gehabt, Emotionen in Menschengesichtern zu erkennen, vermutlich hat es mich damals wie heute einfach zu wenig interessiert, was andere bewegt. Ich gehe grundsätzlich davon aus, dass sie sich entfernen werden, wenn ihnen etwas nicht behagt.
    Es erstaunt mich auch nicht besonders, dass eine behinderte Frau als Prostituierte arbeitet. Wenn man weiß, dass Männer in Pornofilmen am meisten durch den devoten Gesichtsausdruck der Darstellerinnen erregt werden, wundert einen nichts mehr. Auch nicht abwegig, dass sie das Gespräch mit mir sucht, denn die anderen Inselbewohner werden vermutlich nicht so gerne untertags mit ihr plaudern.
    Die Stunde in meinem Sojapudding-Zwischenstopp ist abgelaufen, ich ziehe meinen Hut, verabschiede mich von der Dame und gehe weiter meinem Tagwerk nach, Stunden herumzubringen, zu warten, nicht irrsinnig zu werden, zu hoffen, auf die Nacht, auf den neuen Morgen.

Damals.
Vor vier Jahren.
    Meine Berufsausübung fand in so angenehm reduziertem Umfang statt, dass mich immer wieder das Gefühl der Dankbarkeit überwältigte. Ich wusste nicht, wie man ein Leben in beruflicher Abhängigkeit ertragen konnte, doch vermutlich gewöhnt man sich daran, so wie an einen Tumor, den man mit sich spazieren trägt.
    Manchmal wurde ich daran erinnert, dass die meisten Lebensläufe weitaus unerfreulicher verliefen als der meine, und mit dieser Erkenntnis würde es mir auch gelingen, den Tag zu überstehen.
    Ich saß in einem derart gelben Büro, dass ich, aus Sorge, mich zu kontaminieren, versuchte, nichts zu berühren. Warum taten sich Menschen so etwas an? Diese tiefgehängten Plastikdecken, das Neonlicht, die Kaffeemaschinen mit Glasaufsatz, bei dieser ganzen Manifestation von Lieblosigkeit sah ich mich sofort unter den Tisch mit der Kunstholzbeschichtung fallen.
    Zeige die Dankbarkeit, die du täglich fühlst, sagte ich mir und lächelte mit der Anmut einer Tempeltänzerin.
    Ich hielt mich in jenem Büro auf, weil mir ein Abteilungsleiter
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