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Der Mann, der seine Frau vergaß

Der Mann, der seine Frau vergaß

Titel: Der Mann, der seine Frau vergaß
Autoren: John O'Farrell
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Spreche ich zufällig mit … äh … Gary?«, stammelte ich.
    »Ja. Vaughan! Bist du das? Verdammt noch mal, wo steckst du? Du warst wie vom Erdboden verschluckt!«
    In panischem Schrecken drückte ich ihn weg und gab Bernard das Telefon zurück.
    »Hast du seine Stimme erkannt?«
    »Äh, nein. Nein, ich … das war wahrscheinlich nur irgend so ein Typ«, stammelte ich. Aber der Unbekannte rief sofort zurück. Und bald unterhielten Bernard und er sich ziemlich angeregt über mich.
    »Das war einmal«, sagte Bernard. »Jetzt bin ich sein bester Freund …«

3. KAPITEL
    Gary schloss mich innig in die Arme, während ich dastand wie ein Ölgötze und die Berührung über mich ergehen ließ wie ein Teenager, der an Weihnachten von seiner alten Tante liebkost und gehätschelt wird.
    »Vaughan! Ich habe mir solche Sorgen um dich gemacht. Ich liebe dich, Alter!«
    »Du liebst mich?«, stammelte ich. »Dann bin ich dein …? Heißt das, wir sind, äh, schwul ?«
    Die innige Umarmung endete abrupt, und Gary sah zu Bernard. »Nein, doch nicht so . Ich liebe dich wie einen Bruder, verstehst du …«
    »Du bist mein Bruder?«
    »Nein, jedenfalls nicht im wörtlichen Sinne – aber wir sind wie Brüder, du und ich. Gazoody-baby!«
    »Was?«
    »Gazoody-baby! Das war unser Spruch. Gazooooooody-baby! Weißt du nicht mehr?«, sagte er und versetzte mir spielerisch einen Schlag auf den Oberarm, der ziemlich wehtat.
    Das also verstand mein Besucher unter Zurückhaltung und Diskretion, worum die Ärztin ihn im Vorgespräch ausdrücklich gebeten hatte. Sie hatte ihn am Telefon gewarnt, ich wisse wahrscheinlich nicht, wer er sei, und könne überaus nervös reagieren, wenn er gar zu plump oder vertraulich auftrete. Gut, dass er sich diesen Rat so sehr zu Herzen genommen hatte. Trotz der Isolation, unter der ich bislang gelitten hatte, empfand ich die Kumpelhaftigkeit dieses Fremden als deplatziert. Ein primärer Abwehrmechanismus setzte ein; offenbar hatten die Jäger und Sammler der Urzeit rasch gelernt, dass wildfremde Menschen nur dann so freundlich waren, wenn sie einen zum Glauben bekehren wollten.
    »Pass auf, das klingt jetzt vielleicht ein bisschen unhöflich, aber ich habe leider nicht die geringste Ahnung, wer du bist. Bis du mich eben ›Vaughan‹ genannt hast, wusste ich noch nicht einmal, wie ich mit Vornamen heiße.«
    »Eigentlich ist es dein Nachname. Aber alle nennen dich so.«
    »Siehst du? Das wusste ich nicht. Ich weiß überhaupt nichts. Habe ich zum Beispiel eine Mutter? Ich weiß es nicht.«
    Der Mann zögerte einen Augenblick und legte mir dann die Hand auf die Schulter. »Sorry, Alter. Deine Mum hat vor gut fünf Jahren den Löffel abgegeben.«
    »Aha.« Ich zuckte die Achseln. »Na ja, was soll’s. Ich kann mich sowieso nicht an sie erinnern …«
    Und er lachte, als hätte ich einen Witz gemacht.
    »Ja, die Schwester hat gesagt, du hättest das Gedächtnis verloren oder so. Sie ist ein heißer Feger, was? Hat sie dich nackt gesehen?«
    »Äh, nein.«
    »Umso besser. Wollen wir das eine oder andere Bierchen zischen gehen? Ich habe Heißhunger auf eine Gewürzgurke.«
    Zu meiner Überraschung musste ich unwillkürlich lachen. Ich hatte seit dem Tag Null nicht mehr gelacht, dabei hatte mein Besucher noch nicht einmal einen Scherz gemacht. Aber die Wahl- und Ziellosigkeit seiner Gedanken war komisch und erfrischend. Als ich das Krankenhaus betreten hatte, war mir meine Identität ein Rätsel gewesen; es mussten einfach nur die richtigen Leute die richtigen Türen aufstoßen und mir den Weg aus meinem dunklen Verlies weisen. Bernard hatte meine reizbare, leicht intolerante Seite zum Vorschein gebracht; Gary hatte mir gezeigt, wie man mich zum Lachen bringen konnte.
    »Also, Vaughan, zieh dir schleunigst was an, oder wolltest du etwa im Schlafanzug ins Pub?«
    »Er darf das Krankenhausgelände nicht verlassen!«, fuhr Bernard dazwischen, dem der Auftritt dieses Eindringlings sichtlich gegen den Strich ging. »Im Übrigen wollte die Ärztin dabei sein, wenn ihr euch das erste Mal gegenübertretet.«
    »Ja, aber ich hatte keine Lust, noch länger zu warten. Ich habe geschlagene zwanzig Minuten da draußen gesessen. Seit wann brauche ich einen Termin, wenn ich meinen besten Freund besuchen will?«
    Ich bemühte mich, nicht allzu selbstgefällig dreinzuschauen, als ich Garys Worte hörte. Nach einwöchiger Gefangenschaft wirkte seine Missachtung sämtlicher Vorschriften regelrecht ansteckend, und ich konnte der
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