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Der Mann, der seine Frau vergaß

Der Mann, der seine Frau vergaß

Titel: Der Mann, der seine Frau vergaß
Autoren: John O'Farrell
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Versuchung, die Gelegenheit beim Schopf zu packen und einen kleinen Ausflug in die Freiheit zu wagen, nur sehr schwer widerstehen. Trotzdem wäre ich ihr vermutlich nicht erlegen, hätte Bernard mir nicht strengstens verboten, die Station zu verlassen.
    Als Gary und ich ins Freie traten, überkam mich ein Gefühl der Freude und der Panik. Ich hatte fast schon vergessen, wie frische Luft roch, und mein Begleiter kannte sämtliche Geheimnisse meines früheren Lebens. Ein lärmendes Motorrad ließ mich zusammenzucken, und die vorüberhetzenden Passanten, die alle ganz genau zu wissen schienen, wohin sie wollten, machten mir Angst.
    Gary war ein großer, spindeldürrer Mann meines Alters, der sich kleidete, als wäre er zwanzig Jahre jünger. Er trug eine Motorradjacke aus Leder, obwohl er kein Motorrad hatte. Seine Koteletten waren eindeutig zu lang für jemanden, dessen Haaransatz bereits so weit zurückgewichen war, und er verströmte eine Aura zwanglosen Selbstvertrauens und den überwältigenden Geruch von Nikotin. Doch obwohl mich seine allzu saloppe Art anfangs ein wenig abschreckte, fand ich es erfrischend, dass jemand mit mir sprach, als wäre ich normal. Das machte ihn mir sympathisch – mein Freund »Gary«. Ich hatte einen Freund, und wir gingen zusammen einen trinken.
    »Ich bringe das nur ungern aufs Tapet …«, sagte er und sah mich leicht verlegen an, als wir um die nächste Ecke bogen, »… aber du erinnerst dich hoffentlich, dass du mir noch zwei Riesen schuldest?«
    »Ach ja? Tut mir leid, aber ich habe keinen Penny … ich … meinst du, du kannst dich noch ein Weilchen gedulden?« Da bemerkte ich das Funkeln in seinen Augen, und er fing schallend an zu lachen.
    »Hahaha – ja, kein Problem!« Er lachte. »Hab ich dich drangekriegt.«
    »Ja, allerdings «, sagte ich und lachte leicht gequält mit.
    »Da hätte ich ja glatt noch ein-, zweitausend drauflegen können. Kannst du dich wirklich an nichts erinnern?«
    »Nein, ich habe keinen Schimmer, was ich die letzten vierzig Jahre getrieben habe.«
    »Ja, das kann ich nachfühlen.«
    Mit vierzig Jahren hatte ich ziemlich richtig gelegen. Wie sich herausstellte, war ich neununddreißig, und Gary meinte, meine Fugue sei weiter nichts als »ein klassischer Fall von Midlife-Crisis«. Ich konnte mich des Eindrucks nicht erwehren, dass er meine Krankheit für nicht sonderlich dramatisch hielt – als hätte er im Lauf der Jahre so viele Drogen genommen, dass dies für ihn nur ein veränderter Bewusstseinszustand unter vielen war. Ich fand es ein wenig merkwürdig, dass dieser Mann mich gänzlich ungeniert mit »Wichser« oder »Trottel« ansprach, als hieße ich tatsächlich so. Obwohl mir rasch klar wurde, dass es sich dabei um eine ironisierte Form der Zuneigungsbekundung zwischen zwei alten Freunden handelte, hatte ich alle Mühe, mein instinktives Unbehagen zu unterdrücken, als dieser Mensch, dem ich nie zuvor begegnet war, plötzlich »Hier geht’s lang, du Pfeife« zu mir sagte.
    Da das Pub sich rasch mit Mittagsgästen füllte, setzten wir uns in die hinterste Ecke. Nun konnte ich ihn nach Herzenslust ausfragen. Ich kam mir vor wie bei Das ist Ihr Leben , nur dass der Showmaster dem Star dessen unglaubliche Lebensgeschichte in diesem Fall zum ersten Mal erzählte: »Sie werden sich an diese Stimme nicht erinnern« oder: »Und hier ist sie, Ihre damalige Lieblingslehrerin, auch wenn Sie uns das unbesehen glauben müssen; es könnte sich natürlich ebenso gut um die alte Dame aus der Cafeteria unten im Parterre handeln.«
    Ich bestellte mir ein Guinness, weil ich angeblich immer Guinness trank. Die unendliche Vielzahl von Möglichkeiten war überwältigend; vielleicht mochte ich Bitter, Lager oder Mineralwasser mit einem Schuss Limette. Vielleicht war ich zweimal verheiratet gewesen, siebenfacher Vater, Olympiasieger im Segeln oder gar ein Insolvenzbetrüger.
    Ich beschloss, meine Fragen in chronologischer Reihenfolge zu stellen, sodass wir uns nicht verzettelten und potentiell wichtige Details ausließen. Wahrscheinlich wollte ich die traurigen Nachrichten möglichst schonend beigebracht bekommen: Falls ich ein Totalversager war, ließ sich das eventuell leichter verschmerzen, wenn ich begriff, wie es dazu hatte kommen können. Doch mein Versuch, einige grundlegende Fakten über meine Kindheit und frühe Jugend zu klären, war nicht direkt von Erfolg gekrönt.
    »Also. Habe ich Geschwister?«
    »Nee. Du bist ein Einzelkind. Ach, ich wollte mir
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