Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Mann, der seine Frau vergaß

Der Mann, der seine Frau vergaß

Titel: Der Mann, der seine Frau vergaß
Autoren: John O'Farrell
Vom Netzwerk:
eigentlich was zu essen bestellen …«
    »Okay. Wo bin ich aufgewachsen?«
    »Nirgends. Oder vielmehr überall. Dein Vater war bei der Armee, darum bist du als Kind ständig umgezogen. Du hast in Deutschland, Zypern, Malaysia und … äh … Yorkshire gelebt. Hm. Da war doch noch was. Ja. Hongkong, glaube ich. Shangri-La nicht zu vergessen.«
    »Das gibt’s doch nur im Film.«
    »Ach ja? Dann kann es das nicht gewesen sein. Vielleicht Shanghai? Jedenfalls meine ich, mich erinnern zu können, dass du mal gesagt hast, du wärst nie länger als ein Jahr auf ein und dieselbe Schule gegangen.«
    »Meine Güte. Dann bin ich wohl ein ziemlich anpassungsfähiger Mensch?«
    »Äh, wenn du so willst … Mist, ich hätte eine Tüte Chips oder so was …«
    »Weitgereist.«
    »Weitgereist. Das reinste Zigeunerleben, ja.«
    »Ein Soldatenkind!«
    »Luftwaffe. Er war ein ziemlich hohes Tier, obwohl er, glaube ich, nur für die Buchhaltung oder so zuständig war. Ja, der arme Kerl hatte einen Herzanfall, kurz nachdem deine Mutter gestorben ist.«
    »Oh.«
    »Aber ich erinnere mich noch sehr gut an deine Eltern, von früher, als wir jünger waren. Sie waren ein reizendes Pärchen, Gott hab sie selig. Ihr hausgemachter Wein war der Hammer.«
    Da ich keinerlei Erinnerung an die beiden hatte, waren meine Eltern für mich wenig mehr als ein abstraktes Konzept – Namen im Stammbaum, weiter nichts. Alles, was er mir über mich erzählte, hätte ebenso gut jemand anderem passiert sein können – oder eine frei erfundene Geschichte. Gary wusste erstaunlich wenig über meine Kindheit und die Zeit, als wir uns noch nicht kannten. »Woher soll ich wissen, was du im Abi für einen Notendurchschnitt hattest?«, protestierte er.
    »Tut mir leid, aber ich bin schrecklich nervös. Ich habe einfach Angst, dass mich etwas erwartet, womit ich nicht gerechnet hatte. Dann habe ich also studiert?«
    »Na klar, wir haben uns auf der Uni kennengelernt«, erinnerte er sich schon etwas enthusiastischer. »Ich habe Anglistik und Amerikanistik studiert. Angefangen hatte ich mit Literaturwissenschaft, aber …«
    »Entschuldige, wo war das? Oxford? Cambridge?«
    »Bangor. Wo ich nur hängengeblieben bin, weil das schönste Mädchen meiner Schule sich auch dort beworben hatte. Sie ist dann in East Anglia gelandet, daraus wurde also nichts …«
    In den folgenden zehn Minuten erfuhr ich, dass Gary und ich uns in Nordwales nicht nur eine Studentenbude geteilt, sondern auch gemeinsam in der College-Fußballmannschaft gespielt hatten. Außerdem hatten wir den gleichen Abschluss, auch wenn ich im Gegensatz zu Gary nicht meine gesamte Diplomarbeit bei einem Studenten aus Aberystwyth abgekupfert hatte. Ehrlich gesagt, war es faszinierend, so viel über mich herauszufinden.
    Obwohl ich nur ein kleines bestellt hatte, kehrte Gary mit einem großen Guinness und einem Solei von der Theke zurück, das er wahrscheinlich nur genommen hatte, weil es schon etwas angegraut aussah. Eine Frage musste ich unbedingt loswerden, und während er an der Theke gestanden hatte, war ich in Gedanken versunken und hatte versonnen auf den weißen Schatten an meinem Ringfinger gestarrt. Vor lauter Nervosität traute ich mich kaum, das Thema anzusprechen. Wenn ich eine Frau hatte, wollte ich wissen, unter welchen Umständen ich sie kennengelernt hatte. Ich wollte wissen, was für ein Mensch ich gewesen war, als ich geheiratet hatte.
    »Du hast also wirklich keinerlei Erinnerung an dieses Pub?«, fragte Gary und setzte sich.
    »Nein. Warum? Sind wir schon mal hier gewesen?«
    »Ja … du hast hier mit Crack gedealt, bevor du dich mit der Russenmafia angelegt hast …«
    »Ach ja, natürlich, die Russenmafia. Lass mich raten, die Jungs haben mir eine Rote-Bete-Knolle ins Bett gelegt, stimmt’s?« Dass ich Gary erfolgreich zum Kichern gebracht hatte, erfüllte mich mit Stolz. »Schon komisch. Ich weiß weder, wer ich bin, noch was ich getan habe. Aber eins weiß ich genau: Ich habe nicht mit Crack gedealt.«
    »Nein, harte Drogen waren eigentlich nie dein Ding. Du machst dir ja schon ins Hemd, wenn deine Blagen mal ein Aspirin schlucken.«
    So kam ich dahinter, dass ich Vater war. »Deine Blagen «, hatte Gary gesagt. Plural. Ich hatte Kinder.
    »Ach ja – deine Blagen«, sagte Gary, als ich nachhakte. »Ja, du hast gleich zwei. Einen Jungen und ein Mädchen, Jamie ist ungefähr fünfzehn oder zwölf oder so, und Dillie ist etwas jünger, vielleicht zehn. Eigentlich müsste sie inzwischen
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher