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Der Mann der nicht zu hängen war

Der Mann der nicht zu hängen war

Titel: Der Mann der nicht zu hängen war
Autoren: Pierre Bellemare
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wohl, was man Zivilisten schuldet — und erst recht einem jungen Mädchen. Und wie es sich nach der Genfer Konvention gehört, folgt er dem jungen Soldat sofort in die Kirche. »Schnell, sonst stirbt sie, schnell!«
    Ein abgebundener Arm, eine Spritze, und die Blutung kommt zum Stillstand. Hermann Ropp läuft herum. Er ist an allen Ecken des Dorfes zugleich und bringt es mit seinem Drängen zuwege, daß die Trage des jungen Mädchens mit einem Sanitätsfahrzeug der Wehrmacht ins Hospital von Béthune gefahren wird. Aneinandergedrängt bleiben Vater, Mutter und die beiden Brüder bei ihr. Der Vater hält ihre gesunde Hand. Die Mutter schluchzt. Auch Hermann Ropp ist dabei, als zwei Krankenwärter die Trage herausheben und sie in den ersten Stock des Krankenhauses bringen.
    »Du wartest auf mich, ja? Ich komme gleich«, sagt er zu dem Fahrer.
    Eine Stunde lang bleibt Hermann Ropp am Kopfende des Bettes stehen. Lange genug, um zu sehen, daß sie sehr hübsch ist. Lange genug auch, um zu erfahren, daß der Sehnerv möglicherweise durchtrennt ist und daß der Arm wahrscheinlich amputiert werden muß. Lange genug schließlich, um zu hören, daß sie Rose heißt, daß sie in Courtrai in Belgien geboren ist und daß sie verletzt wurde, als die Familie mit den Flüchtlingen durch das Dorf kam.
    Als Rose wieder zu Bewußtsein kommt, steht Hermann Ropp auf. Er muß gehen. In der Stadt setzt sich sein Bataillon wieder in Marsch. Unten hupt der Fahrer ungeduldig. Hermann Ropp hat nur eine Minute, um der jungen Blinden, die langsam wieder zu sich kommt, zu sagen..., ja, was zu sagen? Als ob man mit wenigen Worten ausdrücken könnte, was er nun begriffen hat! So nimmt er ihre Hand, drückt sie zart und stammelt lediglich: »Verzeihung. Verzeihung.«
    Die Mutter sieht nicht, wie er geht, aber der Vater — den Tränen nahe — faßt seinen Arm und dankt ihm.
    Einige Tage später, bei Dünkirchen, angewidert vom Krieg, gerät der Soldat Hermann Ropp in britische Gefangenschaft. Vom Kriegsgefangenenlager in England aus erlebt er, wie das Blatt sich wendet. Panzer, größer und noch furchterregender als zu Beginn des Krieges, rollen in die andere Richtung. Flugzeuge, viel mehr Flugzeuge, schneller und schwerer als zu Beginn des Krieges, spucken Tausende von Bomben aus und töten nun ihrerseits deutsche junge Mädchen. Die Kanonen donnern nun unter einem anderen Himmel. Mit hochgekrempellen Ärmeln und Siegerstolz in den Augen dringen alliierte Soldaten in Deutschland ein. Für Hermann Ropp aber hat der Krieg nur ein Opfer gefordert: das junge Mädchen in der Kirche bei Béthune. Was wohl aus ihr geworden ist? Ob sie überhaupt noch lebt? Aus der Kriegsgefangenschall entlassen, kehrt er 1945 nach Lutterbach in Westfalen zurück. Von seinem Elternhaus ist nicht viel geblieben — seine Familie in alle Winde zerstreut. Hermann Ropp beschließt, Deutschland zu verlassen und — wie er es sich im Gefangenenlager vorgenommen hatte — die junge Belgierin zu suchen. Er weiß nichts von ihr, außer daß sie Rose heißt und aus Courtrai stammt.
    Mit falschen Papieren überschreitet er die belgische Grenze und kommt auch bis Courtrai, wo er sich drei Wochen lang kümmerlich durchschlägt. Eines Tages erfährt er endlich, daß Rose niemals nach Belgien zurückgekehrt ist, daß sie aber lebt und mit ihrer Familie irgendwo in Frankreich wohnt — irgendwo in Frankreich...
    Noch am selben Abend passiert Hermann Ropp die französisch-belgische Grenze und fragt sich überall durch: »Kennen Sie hier in der Gegend ein braunhaariges junges Mädchen, blind und mit nur einem Arm?«
    »Du lieber Gott, nein!«
    Drei Monate lang sucht er Dorf um Dorf ab, bis er eines Tages in Neufchatel auf die Spur des jungen Mädchens stößt. Die Hoffnung treibt ihn zu einem kleinen Marktflecken im Calvados, wo er glaubt, Rose finden zu können. Aber er trifft nur Polizisten. Er wird festgenommen, wieder freigelassen und macht sich wieder auf die Suche.
    Um diese Zeit liegt ein blindes Mädchen mit nur einem Arm im Liegestuhl eines Gartens in Beaulieu-sur-mer bei Nizza. Ihr Vater sitzt neben ihr und erzählt ihr zum x-ten Mal, wie sie fünf Jahre zuvor gerettet worden war: »Wir hatten dich in die Kirche gebracht. Du warst voller Blut, es gab keinen Arzt und kein Auto im Dorf. Ich sah, daß dein Arm fast abgerissen war, aber ich wußte nicht, daß du auch das Augenlicht verloren hattest. Während ich versuchte, dich zu versorgen, eroberten die Deutschen das Dorf. In der
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