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Der Mann der nicht zu hängen war

Der Mann der nicht zu hängen war

Titel: Der Mann der nicht zu hängen war
Autoren: Pierre Bellemare
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dem Dorf gehalten. In einer Staubwolke tauchen die ersten Infanterie-Stoßtrupps auf dem Dorfplatz auf... Mit ihnen Hermann Ropp, der jetzt für bewiesen hält, was die Lehrer seiner Jugend ihm eingeschärft haben: daß Tugend und Tapferkeit zum Sieg führen.
    »Vorwärts für Führer und Reich!« hat Hermann auf die erste Seite seines Feldtagebuchs geschrieben. Es soll ein Heldenepos werden. Vor drei Tagen hat er damit begonnen. Heute wird er die vierte Seite schreiben.
    Weil er im Augenblick gerade keinen Befehl auszuführen hat, beschließt der junge Soldat, sich die Kirche anzuschauen. Den Karabiner im Anschlag, stößt er mit einem Fußtritt das jahrhundertealte Portal auf. Es dreht sich schwer in den Angeln. Hermann hilft mit der Schulter nach und schlüpft in die Kirche.
    In ihrem Halbdunkel empfängt ihn jedoch nicht die erwartete Stille — er hört Gemurmel und schweres Atmen. Sein Blick schweift über die aufgeworfenen Platten des Mittelgangs zum Altar. Dort sieht er in der Mitte des Chores — zusammengedrängt — eine seltsame Gruppe von Menschen: einen Mann mit blutbefleckten Hemdsärmeln, eine blasse Frau mit aufgelöstem Haar und zwei kniende Jungen, so um die zehn, zwölf Jahre alt. Sie wirken verstört.
    Auf einer Trage zu ihren Füßen liegt ausgestreckt ein blutiger Körper. Sie drängen sich um ihn, als müßten sie ihn vor Hermann schützen. Das Bild versetzt ihm einen Schock. Ihm ist, als ob er es entweihe. Vielleicht hat er auch Angst, weil er nicht richtig weiß, was die Leute tun, was sie gleich tun werden und was er tun soll. Seine Lehrer haben ihm das nicht beigebracht. Er hat einfach Angst — vielleicht auch, weil sein Unterbewußtsein ihm sagt: Hermann, das hier ist die Wende deines Lebens. Die Frau auf der Trage hat lange, dunkle Haare. Er kann nicht erkennen, ob sie tot oder nur verletzt ist, aber er sieht: Es ist ein junges Mädchen. Der Mann — sicher der Vater — beachtet ihn nicht. Er beugt sich wieder über seine Tochter und versucht, ihren rechten Arm zu schienen. Die Mutter reicht ihm Stoffstreifen, die sie von einem Hemd abreißt. Ein Junge tupft das Blut ab, das aus einer Wunde auf der Stirn quillt.
    Der Soldat tritt mit fragendem Blick zu den Eltern. Sie merken, daß er nicht französisch spricht. Und da sie auch nicht Deutsch können, zucken sie nur mit den Schultern.
    Vom Pfarrhaus her trippelt ein uralter kleiner Priester mit einem Verbandskasten heran. Er könnte hundert Jahre alt sein. Wenigstens kann er etwas Deutsch: »Sie stirbt, wenn man nichts unternimmt!«
    »Aber... wer hat das getan?«
    Der alte Priester mustert Hermann Ropp eine, zwei oder drei Sekunden lang — es gibt Momente im Leben, die kann man nicht messen. Unter den weißen Brauen, aus dem Gewirr der Augenfältchen heraus, blicken seine Augen ihn erstaunt an: »Das fragen Sie noch, wer das getan hat? Ja Sie, die Deutschen! Wer sonst?«
    Wie ein Schüler, der sich gegen die Ungerechtigkeit seines Lehrers auflehnt, richtet sich Hermann Ropp auf und will schreien. Aber er hat verstanden: Natürlich war er es. Gestern noch hat er seiner Mutter geschrieben: »Liebe Mutter, du kannst stolz auf mich sein, morgen bekomme ich meine Feuertaufe..., es geht an die Front!«
    Nur das hier hat er nicht erwartet. Seit zwei Tagen hat er nur Panzer auf den Straßen brummen hören, er hat seine Kameraden singen hören, sie mit aufgekrempelten Ärmeln marschieren sehen; Flüchtende, brennende Häuser, knatternde Maschinengewehre, heulende Flugzeuge, Kanonendonner, aber keinen einzigen Toten, keinen Verletzten. Das erste Blut, das er sieht, sieht er an diesem verwundeten jungen Mädchen, mitten in einer Kirche — ein Anblick, auf den er nicht vorbereitet war.
    »Sie war auf der Straße, als es passierte«, erklärt der Priester leise. »Ihr Arm ist fast abgerissen, sie hat eine tiefe Wunde an der Stirn. Ich fürchte, sie wird blind. Und sie ist bereits seit zwei Stunden hier. Sie hat schon viel Blut verloren. Kein Arzt, kein Auto im Dorf. Man müßte einen Ihrer Militärärzte holen!«
    Wie ein betroffener kleiner Junge, voller Respekt vor der Soutane, antwortet Hermann: »Jawohl, Herr Pfarrer.«
    »Sie muß in ein Krankenhaus gebracht werden, sonst stirbt sie!«
    »Jawohl, Herr Pfarrer.«
    Drei Schritte weicht er zurück, dann macht Hermann Ropp kehrt, schlüpft durch die schwere Tür und steht draußen in der prallen Sonne. Er geht los und sucht den Stabsarzt. Der, ein gewissenhafter, menschlicher Offizier, weiß sehr
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