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Der Kuss des Killers

Der Kuss des Killers

Titel: Der Kuss des Killers
Autoren: J. D. Robb
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1
    S ie war vom Tod umgeben. Sie begegnete ihm täglich bei der Arbeit, erlebte ihn in jeder Nacht in irgendeinem Traum. Lebte stets in seiner Nähe, kannte seine Geräusche, seine Gerüche, ja selbst seine Textur. Sie konnte, ohne zusammenzuzucken, in sein dunkles, bösartiges Antlitz blicken, was ihre Rettung war. Denn sie wusste, der Tod war der trickreichste von allen Feinden. Man brauchte nur zu zucken, brauchte nur zu blinzeln, und schon veränderte er seine Position, seine Gestalt, schon konnte es geschehen, dass er den Kampf gewann.
    Selbst nach zehn Jahren als Polizistin war sie noch nicht abgestumpft. Konnte sie den Tod nicht akzeptieren. Wenn sie ihm entgegensah, dann mit der stählernen Entschlossenheit der alten Kriegerin.
    Auch in diesem Augenblick starrte Eve Dallas auf den Tod. In Gestalt eines Menschen, der ein Mitglied ihrer eigenen Truppe gewesen war.
    Frank Wojinski war ein guter, ein solider Cop gewesen. Einige hätten ihn vielleicht ein wenig schwerfällig genannt. Sie erinnerte sich an ihn als einen umgänglichen Mann – jemand, dem nie auch nur die leiseste Beschwerde über den Fraß in der New Yorker Polizeikantine oder über die Berge von Papierkram, die mit seinem Job verbunden waren, über die Lippen gekommen war. Oder, dachte Eve, darüber, dass er es mit zweiundsechzig nicht weiter gebracht hatte als zum Detective-Sergeant.
    Er hatte, obwohl es im Jahre 2058 eher ungewöhnlich war, auf Körperformung und andere Möglichkeiten der Verjüngung zu verzichten, einen leichten Bauchansatz gehabt und sein Haar natürlich ergrauen und dünner werden lassen. Jetzt, in dem durchsichtigen Sarg, auf dem ein einzelnes, trauriges Liliensträußchen lag, wirkte er wie ein friedlich schlafender Mönch aus einer anderen Zeit.
    Und tatsächlich stammte er aus einer anderen Zeit. Er hatte am Ende des vorherigen Jahrtausends das Licht der Welt erblickt und auch noch die innerstädtischen Revolten hautnah miterlebt, jedoch seltener davon gesprochen als so viele andere ältere Cops. Frank hatte, statt mit Kriegsgeschichten anzugeben, lieber die neuesten Schnappschüsse oder Hologramme seiner Kinder und Enkelkinder herumgezeigt.
    Er hatte gerne schlechte Witze erzählt, über Sport geredet und hatte eine Schwäche für Sojaburger und würzige Essiggurken gehabt.
    Ein Familienmensch, sagte sich Eve, ein Mann, dessen Tod große Trauer hinterließ. Tatsächlich fiel ihr niemand ein, der Frank Wojinski gekannt und ihn nicht geliebt hätte.
    Er war gestorben, als er noch das halbe Leben vor sich gehabt hatte; vollkommen allein, als das Herz, das alle für so groß und stark gehalten hatten, einfach stehen geblieben war.
    »Gott verdammt.«
    Eve drehte sich um und ergriff den Arm des Mannes, der neben sie getreten war. »Tut mir Leid, Feeney.«
    Er schüttelte den Kopf, fuhr sich mit der Hand durch das drahtige rote Haar und seine müden Augen füllten sich mit Tränen. »Wenn er im Dienst gestorben wäre, wäre es einfacher für mich. Damit käme ich irgendwie zurecht. Aber dass plötzlich sein Herz aufhört zu schlagen, während er gemütlich in seinem Sessel sitzt und sich im Fernsehen ein Footballspiel ansieht, ist einfach nicht richtig, Dallas. Ein Mann in seinem Alter sollte nicht so abrupt aufhören zu leben.«
    »Ich weiß.« Unsicher, wie sie Feeney trösten sollte, schlang sie einen Arm um seine Schulter und führte ihn sanft fort.
    »Er hat mich ausgebildet. Hat sich um mich gekümmert, als ich noch ein blutiger Anfänger war. Hat mich nie im Stich gelassen.« In seinen Augen schwammen Tränen und seine Stimme schwankte. »Frank hat in seinem ganzen Leben niemanden jemals im Stich gelassen.«
    »Ich weiß«, wiederholte Eve, da es sonst nichts zu sagen gab. Sie kannte Feeney als einen harten, zähen Brocken, und die Schwäche, die er mit einem Mal in seiner Trauer zeigte, erfüllte sie mit Angst.
    Sie führte ihn an den anderen Trauergästen vorbei. Der Raum war zum Bersten mit Polizisten und Angehörigen des Toten angefüllt. Und wo es Polizisten und Tote gab, gab es ganz sicher Kaffee. Oder zumindest etwas, was man an einem Ort wie diesem Kaffee nannte. Eve füllte eine Tasse und drückte sie Feeney entschieden in die Hand.
    »Ich komme einfach nicht darüber hinweg. Ich kann es nicht begreifen.« Er atmete vorsichtig aus. Er war ein kräftiger, etwas untersetzter Mann, der seine Trauer ebenso offen wie seinen zerknitterten Mantel trug. »Ich habe bisher nicht mit Sally gesprochen. Meine Frau ist
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