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Die Farbe der Liebe

Die Farbe der Liebe

Titel: Die Farbe der Liebe
Autoren: Vina Jackson
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Prolog DAS KIND AM SEE
    Das Baby schlief.
    Ein blasser Streifen Mondlicht lugte in das Zimmer des Motels, und vom nahe gelegenen See drang das leise Plät schern des Wassers durch die Nacht. Reglos lagen sie auf dem schmalen Bett. Der Ingenieur und die Ball-Maîtresse schwiegen und lauschten gedankenversunken den regelmäßigen Atemzügen ihres Kindes, dem einzigen Geräusch, das vor dem Hintergrund der zirpenden Zikaden der Stille einen Rhythmus gab.
    »Ich wusste gar nicht, dass Zikaden auch nachts zirpen«, meinte sie.
    »Vielleicht liegt es an der Lampe am Steg«, sagte der Mann. »Oder an der Hitze.«
    »Ja, es ist wirklich heiß …« Unwillkürlich strich sie mit ihren verschwitzten Händen über das Laken, das ihre Körper bedeckte, als könnte sie durch das Glätten des Stoffs die drückende Hitze mildern. »Möglicherweise sind es aber auch Grillen oder Heuschrecken«, überlegte sie.
    »Nein, eindeutig Zikaden«, stellte der Mann fest. »Ich kenne ihren Klang.«
    Die junge Frau antwortete nicht. Sie drehte sich zu ihm und legte die Hand sacht auf seine behaarte Brust.
    Überwältigt von Dankbarkeit seufzte der Ingenieur auf. Sie lagen nebeneinander, Seite an Seite, mit offenen Augen, und der Babykorb stand auf dem Boden neben ihr, in ihrer Obhut und unmittelbaren Reichweite.
    Er drehte sich zu ihr um. Zu seiner Frau.
    Wenn auch erst seit zwei Wochen.
    Ihre blonde Mähne, die über das Kissen flutete, schimmerte golden und gab ihr etwas Königliches.
    In Gedanken durchlebte er noch einmal die kurze Trauungszeremonie im Rathaus des malerischen Dorfes, in dem sie nach ihrer Flucht vom Ball untergetaucht waren. In diesem Ort hatte auch ihr Kind das Licht der Welt erblickt; die kleine Gemeinde in einem abgelegenen, von Seen durchzogenen Tal, in das sie der Zufall geführt hatte, war nun ihr schützender Hafen vor dem Sturm.
    Sie hatten hitzig diskutiert, ob es sich wirklich als Versteck eigne, dieses hübsche, aber eben auch bei Touristen beliebte Örtchen mit Landhäusern wie aus dem Bilderbuch, mit Andenkenläden und Ferienhäusern rings um das Ufer des halbwegs abgeschiedenen Sees. Doch dann war es ihnen richtig erschienen, sich ganz offen unter die ständig an- und abreisenden Besucher zu mischen. Der Frühling hatte sich dem Ende zugeneigt, im Frühsommer sollte das Baby geboren werden. Bevor sie mit dem Greyhound-Bus in dem Dorf angekommen waren, hatten sie im Vorbeifahren ein kleines Krankenhaus am Ortsrand gesehen. Und ihnen war klar gewesen, dass sie nicht ewig auf der Flucht sein konnten. Dieser Ort sei genauso gut oder schlecht wie jeder andere, hatten sie gemeint.
    Die Trauung war recht nüchtern über die Bühne gegangen. Der Standesbeamte hatte einen schwarzen Anzug mit schwarzer Krawatte getragen, und Trauzeuginnen waren die Hebamme, die die Geburt des Babys betreut hatte, und die Wirtin der Pension, in der sie anfangs untergeschlüpft waren. Sonst kannten sie niemanden hier. Nach zehn Minuten war alles vorüber gewesen, und lediglich die roten Rosensträuße, die der Ingenieur in letzter Minute hatte auftreiben können, hatten dem Ganzen etwas Farbe und Glanz verliehen. Das Baby in seinem Korb war still geblieben, als sie sich ewige Treue geschworen und die Worte des Gelübdes nachgesprochen hatten, die sie so rasch zu Mann und Frau machten.
    Der Ingenieur streckte den Arm aus und fuhr seiner Frau mit den Fingern durch das lange Haar. Es war, als striche er über Seide, ein Gefühl, das er erregend und beruhigend zugleich empfand. Er holte tief Luft, weil er sich voll und ganz in diesen Augenblick versenken wollte, der, wenn es nach ihm ginge, niemals enden sollte.
    Wenn sie einen Jungen bekommen hätten, wäre es vielleicht möglich gewesen, eine Weile an ein und demselben Ort zu verweilen und nach der kopflosen Flucht sich sogar irgendwo richtig niederzulassen. Doch so war ihnen diese Möglichkeit verwehrt. Der Ball würde es niemals zulassen, dass die Tochter einer Ball-Maîtresse sich ihrem Schicksal entzog.
    »Kannst du nicht schlafen?«, fragte ihn seine Frau.
    »Nein.«
    Sie rutschte näher an ihn heran, überwand mühelos die Kuhle in der Mitte des Betts, die hunderte Paare vor ihnen in der Matratze hinterlassen hatten, und schmiegte sich an ihn. Er schlief nackt, sie trug wie üblich ein dünnes Baumwollnachthemd, das sich bis zur Taille hochgeschoben hatte.
    Sofort sprang der Funke zwischen ihnen über. So wie es immer geschah, seit sie sich zum ersten Mal berührt hatten – damals,
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