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Der Mann, der ins KZ einbrach

Der Mann, der ins KZ einbrach

Titel: Der Mann, der ins KZ einbrach
Autoren: Rob Broomby Denis Avey
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verloren. Ich hatte die Augen offen und blickte hinaus, und alles war schwarz.« Seine Lippen bebten, als er wiederholte: »Alles war schwarz.« Ernie hatte inmitten sterbender Häftlinge in einem offenen Viehwaggon gesessen, blind und hilflos.
    Kopfschüttelnd starrte er ins Leere, sichtlich um Worte verlegen. So hatte ich ihn nie erlebt. Er musste gegen die Tränen ankämpfen, und seine Stimme brach, als er schließlich fortfuhr: »Es war schrecklich. Der Zug rollte, hielt und rollte weiter, aber für mich spielte es keine Rolle mehr. Es schneite noch immer.« Ernie hielt inne und putzte sich die Nase. Es kam mir so vor, als würde er vor unseren Augen altern. Das Lächeln, das wir von den Fotos kannten, war verschwunden. Die Falten, die von seiner Nase zum Mundwinkel verliefen, waren tiefer geworden.
    Ernie war nun auf seinen Freund Makki angewiesen, der ihm sagte, dass sie Österreich verlassen hätten und durch Ortschaften mit tschechischen Namen kämen. Ernie konnte noch immer nichts sehen. Während der Zug durch das Land ratterte, erzählte Makki ihm, dass einheimische Tschechen ihnen Brotlaibe in die Waggons warfen, wenn sie unter Brücken durchfuhren. Offenbar hatte die Reise des Häftlingszuges sich herumgesprochen.
    »Wenn man auf einer Brücke stand, muss sich ein unfassbarer Anblick geboten haben«, sagte Ernie. »Ich weiß nicht, aus wie vielen Viehwaggons der Zug bestand, aber sie alle waren offen, und im Innern drängten sich Gerippe in gestreifter Kleidung, teilnahmslos wie Vieh, das zur Schlachtbank geführt wird.« In ganz Österreich hatten sie keine Scheibe Brot bekommen, und als sie nach Deutschland kamen, war es genauso. Aber die Tschechen hatten getan, was sie konnten, um ihnen zu helfen. Ich musste an das Stück Brot denken, das ich bekommen hatte, als wir uns ungefähr zur gleichen Zeit müde durchs Land schleppten.
    Ernie lebte nun in finsterer Nacht. Ohne Makki wäre er hilflos gewesen. Es musste ihm so vorgekommen sein, als ströme sein Leben hinaus in die Dunkelheit. Natürlich wusste er, dass ein Zwangsarbeiter ohne Augenlicht nutzlos war und dass man ihn erschießen würde, sobald man seine Blindheit bemerkte.
    Nach sieben oder mehr Tagen in den offenen Viehwagen erreichten sie einen Ort bei Nordhausen in Mitteldeutschland, wo man sie aus den Waggons holte und in ein neues düsteres Konzentrationslager trieb. Sein Name war Mittelbau-Dora. Ernie sollte es nie vergessen.
    Er bekam Suppe, und wie durch ein Wunder kehrte sein Augenlicht zurück, ehe jemand seine Blindheit bemerkt hatte. Er erfuhr, dass das KZ Arbeitskräfte für eine geheime unterirdische Fabrik stellte, in der Hitlers »Vergeltungswaffe 2« montiert wurde – die Rakete, die allgemein als V2 bekannt ist. Sie war des Diktators letzte Trumpfkarte.
    Ernie erhielt eine neue Lagernummer, die ihm diesmal wenigstens nicht eintätowiert wurde. Seine Kleidung, darunter ein Pullover, der ihn am Leben erhalten hatte, wurde ihm weggenommen. Man trieb ihn und die anderen in eine Baracke, in der sie zu zweit auf einer Pritsche schlafen mussten. Nun war er wieder ganz unten, ohne Quelle für zusätzliche Lebensmittel. Ernie war lange genug im KZ gewesen, um zu wissen, dass man so etwas nicht überleben konnte.
    Man schickte die Häftlinge in die Stollen, wo die Raketen montiert wurden, und teilte Ernie einem Arbeitskommando zu, das italienischen Zivilarbeitern, die als Maurer beschäftigt wurden, Ziegelsteine brachte. In seinem Teil der Höhlen bekam Ernie keine einzige Rakete zu Gesicht, und es war ihm auch egal. Mittlerweile setzten die Amerikaner zur Rheinüberquerung an, und die Russen hatten Ernies Heimatstadt Breslau eingekesselt. Trotzdem bezweifelte er immer mehr, ob die Alliierten rechtzeitig kamen, um ihn und die anderen zu retten.
    Ich musste an meinen eigenen Weg aus der Gefangenschaft denken und an den Augenblick, als der trügerische Fluss mich lockte, hineinzuspringen und allen Qualen ein Ende zu machen. Ich fragte mich, woher Ernie die Kraft genommen hatte, nicht aufzugeben.
    »Die Arbeit war unmenschlich hart, und zu essen bekamen wir einen Liter Suppe«, berichtete er. Er sagte zu seinem Freund Makki, sie müssten aus dem Lager heraus, sonst würden sie sterben. Etwas Schlimmeres als die Stollen von Mittelbau-Dora konnte es nicht geben. Sie hörten, dass ein Trupp zusammengestellt wurde, der woanders arbeiten sollte. Sie wussten beide, dass es ihre einzige Chance war, und sie meldeten sich freiwillig, ohne zu wissen,
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