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Der Mann, der ins KZ einbrach

Der Mann, der ins KZ einbrach

Titel: Der Mann, der ins KZ einbrach
Autoren: Rob Broomby Denis Avey
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jeden Tag aufs Neue, selbst heute noch, fast siebzig Jahre später.
    Als ich Audrey kennenlernte, die später meine zweite Frau wurde, wusste sie bereits von meinen inneren Dämonen und dass ich sie Auschwitz zu verdanken hatte. Trotzdem konnte ich jahrzehntelang nicht darüber reden. Heutzutage ist es umgekehrt: Ich rede so oft darüber, dass meine Frau glaubt, ich wäre in der Vergangenheit gefangen. Deshalb rät sie mir ständig, nach vorn zu blicken und mich von den Erinnerungen zu lösen. Aber in meinem Alter ist das nicht so einfach.
    Die Tür zum Amtssitz des Premierministers in der Downing Street, in der ich im Fernsehen schon oft führende Politiker des Landes hatte stehen sehen, öffnete sich, und ich trat ein. Im Flur nahm man mir den Mantel ab und führte mich die Treppe hinauf, vorbei an den gerahmten Porträts ehemaliger Premiers, darunter das von Winston Churchill, das ich erstaunlich klein fand für einen politischen Riesen wie ihn. Ich blieb stehen, auf meinen Gehstock gestützt, um wieder zu Atem zu kommen, ehe ich an den Premiers der frühen Nachkriegsjahre und schließlich an Thatcher, Major und Blair vorbei an das obere Ende der Treppe gelangte.
    Dort ließ ich mich erst einmal auf einen Stuhl sinken. Schließlich war ich einundneunzig und musste mich von dem Aufstieg erholen. Ehrfürchtig sah ich mich im beeindruckenden Terracotta Room mit seiner hohen Decke und den Kronleuchtern um. Am Morgen hatte Premierminister Brown verkündet, er werde vor dem Chilcot-Untersuchungsausschuss zum Irakkrieg aussagen, sodass ich mich fragte, ob er überhaupt Zeit für mich hatte, zumal auch die Wahlen näherrückten. Doch meine Zweifel verflogen, als der Premierminister ins Zimmer kam, auf mich zutrat und meine Hand nahm.
    Er sprach leise, flüsterte beinahe. Obwohl das Zimmer voller Menschen war und die Pressefotografen und Kamerateams uns zusammen aufnehmen wollten, kam mir dieser Augenblick außerordentlich privat vor. »Wir sind sehr, sehr stolz auf Sie«, sagte der Premierminister. »Es ist uns eine Ehre, Sie bei uns zu haben.«
    Ich war gerührt.
    Seine Frau Sarah stellte sich mir vor. Ich wusste nicht, was ich tun sollte, also küsste ich ihr die Hand und sagte ihr, sie sähe noch besser aus als im Fernsehen. Das entsprach der Wahrheit, aber ich hätte es trotzdem für mich behalten sollen. Komplimente aus dem Munde eines alten Herrn wirken mitunter plump; andererseits lässt man einem Einundneunzigjährigen solche Unüberlegtheiten eher durchgehen. Doch ich begab mich rasch wieder auf sicheren Boden, indem ich hinzufügte: »Mir hat die Rede gefallen, die Sie neulich gehalten haben.« Mrs. Brown dankte mir mit einem Lächeln.
    Dem Premierminister wehte zu der Zeit ein politisch rauer Wind ins Gesicht, und ich sagte ihm, dass es mir nicht gefiele, wie seine Kollegen mit ihm umsprangen. Wenn er jemanden als Rückendeckung bräuchte, wäre ich sein Mann. Der Premierminister lächelte und erwiderte, er werde daran denken. »Ich möchte Ihren Job für kein Geld in der Welt«, fügte ich hinzu. Zwar hatte ich nicht für Gordon Brown gestimmt, aber er war ein anständiger Kerl, und seine Aufrichtigkeit hat mich beeindruckt.
    Ich genoss seine ehrliche, ungeteilte Aufmerksamkeit so sehr, dass ich eine Zeitlang das Gefühl hatte, wir beide wären unter uns. Ich habe ein Glasauge – ein Andenken an Auschwitz – und hatte Mühe, den Premierminister mit meinem verbliebenen Auge deutlich zu sehen. Auch Mr. Brown hatte einen Sehfehler; deshalb rückten wir bei unserem Gespräch so nahe zusammen, dass wir einander fast mit der Stirn berührten.
    Mr. Brown sprach von »Mut« und »Tapferkeit«, während ich ihm von Auschwitz erzählte, von der IG Farben, von der SS und allen möglichen anderen Dingen. Es sprudelte regelrecht aus mir heraus. Einmal hatte ich Schwierigkeiten, ein Wort zu finden; mir fiel nur das deutsche Wort Häftling ein. »Das geht mir genauso, wenn ich mich an diese Zeit erinnere«, sagte ein KZ -Überlebender, der ebenfalls im Zimmer war.
     

     
    Kurz darauf als einer von siebenundzwanzig »Britischen Helden des Holocaust« geehrt zu werden, war ein bewegendes Erlebnis für mich. Fast alle wurden postum gewürdigt. Nur zwei von uns lebten noch – meine Wenigkeit sowie Sir Nicholas Winton, der mehr als sechshundert tschechoslowakische Kinder gerettet hatte. Ich bekam eine Medaille aus massivem Silber mit der Gravur »Im Dienste der Menschlichkeit«. Auf dem Weg nach draußen sagte ich zu
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