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Der Mann, der ins KZ einbrach

Der Mann, der ins KZ einbrach

Titel: Der Mann, der ins KZ einbrach
Autoren: Rob Broomby Denis Avey
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schenkte. Sie strickte dafür Mützen und schuftete wie eine Sklavin. Die Berufsverbote gegen Juden hatten kaum direkte Auswirkungen auf einen Jungen wie Ernie, die »Kristallnacht« allerdings schon. Er erinnerte sich, wie er an jenem Tag im November 1938 auf seinem fünfzehnminütigen Schulweg an eingeschlagenen Schaufensterscheiben und geplünderten Läden vorbeikam. Als er die schöne Breslauer Synagoge erreichte, stand sie bereits in Flammen, und es kursierte das Gerücht, die Nazis würden erwachsene männliche Juden zusammentreiben.
    Danach ging er nicht mehr zur Schule. Die ängstlichen Gespräche unter den Erwachsenen drehten sich um Möglichkeiten, auszuwandern, einfach nur wegzukommen. Susanne hatte einen Platz auf dem Kindertransport nach England bekommen, aber Ernie blieb zurück. Er arbeitete schließlich beim Hachscharah-Programm, das Juden ermutigen sollte, sich landwirtschaftliche Kenntnisse anzueignen und sich auf ein Leben in Israel vorzubereiten. Eine Zeitlang wurde es von den Nazis geduldet, in den ersten Kriegsjahren aber aufgelöst.
    Ernie war erst fünfzehn und kehrte nach Hause zurück, um sich um seine kranke Großmutter zu kümmern, die nun völlig auf ihn angewiesen war. Sie lebten in einem Zimmer einer Wohnung im dritten Stock, während die Gesetze, die das Leben der Juden einschränkten, immer strenger wurden. Selbst das Gas und der Strom, die sie verbrauchen durften, war begrenzt. Ihr Essen mussten sie auf einem Kocher zubereiten, den sie mit Kerosin betrieben, das ein mitleidiger Händler ihnen heimlich zukommen ließ. Ernie entging den Verhaftungen eine Zeitlang und bekam Arbeit bei einer Firma, die Reifen runderneuerte, sodass er seine Großmutter unterstützen konnte.
    Während ich zuschaute, wie Ernie seine Geschichte erzählte, war ich erstaunt, wie lange er auf freiem Fuß geblieben war. Ich hatte immer befürchtet, er hätte viel länger in den Lagern durchhalten müssen. In gewisser Weise war es ein Segen, aber ich wusste ja – wir alle wussten –, wohin sein Weg ihn führen würde. Nachbarn und ein Ladenbesitzer unterstützten die Familie heimlich mit zusätzlichem Essen, aber die Schlinge zog sich rasch zu. Deutsche Soldaten, die von der Ostfront in die Heimat kamen, berichteten, was mit den polnischen Juden geschah: die Verschleppungen, die Gettos, die willkürlichen Morde. Die Geschichten sprachen sich rasch herum, waren aber so grauenhaft, dass niemand sie glauben wollte. Dabei waren sie nur ein kleiner Vorgeschmack auf das, was folgte.
    Ernies Großmutter war bislang verschont geblieben, aber ihre Schwestern hatte man bereits deportiert. Dann, Januar 1943, erschien Ernies Name auf einer der letzten Listen von Juden, die aus der Stadt deportiert werden sollten. Ihm wurde gesagt, er solle sich darauf vorbereiten, nach Osten gebracht zu werden. Ernie vermutete, dass er zu Schwerarbeit gezwungen werden sollte, dass er Straßen bauen müsse oder dergleichen, aber niemand wusste genau, was bevorstand. Er packte einen Rucksack, zog sämtliche warme Winterkleidung an, die er besaß, und wartete.
    Am späten Nachmittag holten Männer in Ledermänteln ihn ab. Es war die Gestapo. Die Männer gaben sich zuerst ganz zivil, bis seine Großmutter sie anflehte, ihr Ernie zu lassen. »Meine Großmutter stand da und blickte völlig verzweifelt drein«, sagte er, schüttelte heftig den Kopf und biss sich auf die Lippe, um die Tränen zu unterdrücken. »Ohne mich war sie hilflos. Sie wusste, dass sie nicht allein zurechtkam. Sie flehte und bettelte. ›Können Sie ihn nicht hierlassen? Er ist meine einzige Stütze.‹ Sie begriff es einfach nicht. Dann wurden die Männer grob. ›Kommen Sie jetzt mit‹, sagten sie zu mir. Da wusste ich, dass ich meine Großmutter niemals wiedersehen würde. Sie war eine gute Frau.«
    Es fiel mir schwer, Ernie dabei zu beobachten, wie er das alles noch einmal durchlebte. Obwohl ich in der Behaglichkeit meines eigenen Hauses saß, konnte ich mich an seine Stelle versetzen, als er diesen schrecklichen Abschied noch einmal durchmachte, und nachempfinden, was er empfunden hatte. Nachdem Susanne fort war, hatte er außer seiner Großmutter keine Verwandten mehr, und Gott allein weiß, was der alten Dame zustieß. Sie war schon sehr gebrechlich.
    Ich verstand allmählich, warum Ernie seine Geschichte erzählte. Er ließ diese Videoaufzeichnung anfertigen, damit die Menschen in der Zukunft wussten, dass er, Ernie Lobet, eine Großmutter namens Rosa gehabt
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