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Der Mann, der ins KZ einbrach

Der Mann, der ins KZ einbrach

Titel: Der Mann, der ins KZ einbrach
Autoren: Rob Broomby Denis Avey
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weg, und über Hope Valley war stellenweise blauer Himmel zu sehen. Rob brachte mir etwas, auf das ich zwölf Monate gewartet hatte: die komplette Lebensgeschichte von Ernie Lobet, den ich als Ernst gekannt hatte, festgehalten in einem mehr als viereinhalbstündigen Videointerview. Ich stieg die Wendeltreppe zum Zwischengeschoss hinauf, neugierig, was aus dem Mann geworden war, den ich vor so vielen Jahren gekannt hatte. Wir setzten uns vor den Fernseher, Rob drückte »Play«, und Ernie legte los. Für ihn begann alles vor dem Krieg mit einer geräumigen Achtzimmerwohnung in der schönen, ehemals deutschen Stadt Breslau. Die Lobethals waren eine angesehene jüdische Familie. Ernies Vater war Direktor einer Seilfabrik, und sie führten ein gutes Leben. Sie hatten sogar einen Nobelpreisträger in der Familie: Ernies Großonkel Paul Ehrlich hatte um die Jahrhundertwende ein Medikament gegen die Syphilis entwickelt.
    Ernie schilderte eine kurze Urlaubsfahrt an die Ostsee mit ihrem Kindermädchen im Jahre 1929, als er vier war. Als sie wiederkamen, hatte sein Vater die Familie verlassen. Ich merkte, dass es eine schmerzhafte Erinnerung für ihn war. Sein Vater, erzählte Ernie, hatte die Firma verscherbelt und war mit einer anderen Frau nach Südafrika geflohen. Es gab einen Skandal, und sämtliche Zeitungen berichteten darüber.
    Ernies Mutter, Frieda Lobethal, und seine Großmutter Rosa blieben zurück, ohne zu ahnen, wohin er verschwunden war. Sie zogen in eine viel kleinere Wohnung. Schließlich gelang es Ernies Mutter, ihren Mann zu finden. Sie verklagte ihn und gewann den Prozess. Doch es sei ein Pyrrhussieg gewesen, erzählte Ernie, weil sie nie auch nur einen Pfennig von ihm gesehen hat.
    Die Probleme prasselten nur so auf die Familie nieder. Ernies Mutter erkrankte an Tuberkulose und musste ins Krankenhaus. Kinder durften Tbc-Patienten damals nicht besuchen, und Ernie sah seine Mutter nur noch zweimal, ehe sie 1932 an der Krankheit starb. In Wahrheit aber, sagte Ernie, sei sie an gebrochenem Herzen gestorben. Eine Familie, die so viel besessen hatte, musste mit ansehen, wie ihr alles zwischen den Fingern zerrann. Und das war erst der Anfang.
    »Er ist großartig, nicht wahr?«, fragte Audrey. Sie meinte damit die Leidenschaft in Ernies Stimme, als er von seiner Familie erzählte. Seine Großmutter hatte ihn und Susanne unter großen Mühen ganz allein aufgezogen. Sie war eine bemerkenswerte Frau, aber sie stammte aus einer wohlhabenden Familie und hatte fast ihr Leben lang Dienstboten gehabt. Im Alter musste sie sich dann plötzlich um zwei Kinder kümmern, mit denen sie kaum umzugehen wusste.
    »Sie war voller Liebe und hätte für ihre Enkel das letzte Hemd gegeben«, sagte Ernie und kämpfte mit der Macht der Erinnerung, als hätte sie ihn übermannt, als er nicht damit rechnete.
    Schließlich gab die Großmutter dem Druck der Verwandten nach und brachte die beiden Kinder in ein jüdisches Waisenhaus. »Dort war es schrecklich, unsagbar schrecklich«, berichtete Ernie. Er verabscheute jeden Augenblick, den er dort verbrachte. Nach seinen eigenen Worten hatte die Zeit dort einen »sehr verderblichen Einfluss«. Weil er klein und mager war, zwang man ihn, mehr zu essen als die anderen, und er musste eine Möglichkeit finden, das Essen loszuwerden. Also wickelte er die Kartoffeln mitsamt der Soße in sein Taschentuch und steckte es ein. Er musste lächeln, als er schilderte, wie ihm die Soße am Bein herunterlief, wenn er nach dem Mittagsmahl losrannte, um das Essen loszuwerden.
    Während er sprach, geschah etwas Merkwürdiges: Ich hatte das Gefühl, als würde ich Ernie jetzt erst kennenlernen, und mir gefiel, was ich sah. Ich glaube, er war sensibler als ich, doch selbst über diese schlimmen Kindheitserinnerungen konnte er lachen.
    Er floh mehrmals aus dem Waisenhaus und wurde schließlich zu Pflegeeltern gegeben. Er sagte, der Tag, an dem er das Waisenhaus hinter sich ließ, gehörte zu den glücklichsten seines Lebens. Bei seinen neuen Vormündern konnte er kommen und gehen, wie es ihm gefiel, aber das Deutschland, das er gekannt hatte, veränderte sich zusehends zum Schlechten. Er war acht, als Hitler 1933 die Macht ergriff, und zwei Jahre später untersagten die Nürnberger Gesetze die Heirat und sexuelle Beziehungen zwischen Juden und nichtjüdischen Deutschen und beschleunigten den Sturz in den Abgrund.
    Ernie erinnerte sich an das Fahrrad, das seine Großmutter ihm als Dreizehnjährigem zum Bar-Mizwa
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