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Der Mann, der ins KZ einbrach

Der Mann, der ins KZ einbrach

Titel: Der Mann, der ins KZ einbrach
Autoren: Rob Broomby Denis Avey
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meisten anderen und besaß festes Schuhwerk und Zigaretten, die einzige anerkannte Währung. Ich hatte selbst die steifgefrorenen Leichen gesehen und war auf der gleichen vereisten Straße wie diese Menschen marschiert; deshalb wusste ich, wie schrecklich diese Tage gewesen sein müssen. Ernie schätzte, dass zwischen vierzig- und sechzigtausend Menschen aus den Auschwitzer Lagern getrieben wurden, von denen nur ungefähr zwanzigtausend das Ziel erreichten. Das bedeutete noch lange nicht, dass sie das Ende des Krieges erlebten; es bedeutete lediglich, dass sie den Marsch überstanden hatten.
    Ernie war klar, dass er an der Spitze der Kolonne marschieren musste, denn am Zielort würde drangvolle Enge herrschen. Genauso war es. Ernie gehörte zu den Ersten, die im Konzentrationslager Gleiwitz eintrafen. Dort ergatterte er einen Pritschenplatz für die Nacht. Wer später kam, musste auf dem harten, eisigen Boden schlafen.
    Rob hatte mich indirekt gewarnt, dass mir eine aufwühlende Geschichte bevorstehe, und ich konnte mir nicht vorstellen, wie Ernie überlebt haben sollte. Ich war quer durch Mitteleuropa marschiert; deshalb wusste ich, dass die KZ -Häftlinge einen solchen Marsch niemals durchgestanden hätten. Sogar ich wäre beinahe daran zugrunde gegangen, und ich war zu Anfang in viel besserer Verfassung gewesen als die jüdischen Mitgefangenen.
    Ernie war drei Tage in Gleiwitz. Sie alle wussten, dass die Russen rasch vorrückten. Wilde Gerüchte, was die SS als Nächstes mit ihnen anstellen würden, machten die Runde. Einige besagten, dass sie in die Konzentrationslager Buchenwald oder Mauthausen kämen, andere, dass die Schweiz oder Schweden sich bereiterklärt hätten, die Juden aufzunehmen. »Alles wurde geglaubt«, sagte Ernie. »Ein sehr beliebtes Gerücht besagte, dass wir in Deutschland in einer Marmeladenfabrik arbeiten sollten. Marmelade enthält Zucker, und alle waren hungrig.« Ich konnte mir gut vorstellen, wie verlockend diese Vorstellung war. Schon in unserem Lager wurde ständig von Essen fantasiert, aber für die jüdischen Häftlinge muss es die reinste Folter gewesen sein. Die ehemaligen Anwälte unter ihnen deuteten an, dass es eine Amnestie für sie geben würde. »Als könnte man jemanden begnadigen, der nie verurteilt worden ist«, kommentierte Ernie.
    Schließlich erhielten sie den Befehl, sich zum Abtransport fertigzumachen, und wurden auf offene Viehwaggons geladen. »In jedem Wagen müssen um die achtzig Menschen gewesen sein«, sagte Ernie und senkte den Blick. Als sie losfuhren, schneite es, und Ernie verlor rasch das Zeitgefühl. »Ich stand den größten Teil des Weges, aber dann starben sie einer nach dem anderen, und wir warfen die Leichen hinaus, sodass wir genug Platz bekamen, um sitzen zu können. Wie viele Tage wir in dem Wagen verbrachten, kann ich nicht sagen. Ich hatte ein bisschen Brot übrig, aber wir bekamen kein Wasser.«
    Ich fühlte mich schrecklich machtlos, als ich ihn hörte, ohne helfen zu können. Leise murmelte ich ihm Ratschläge zu, und beinahe war es so, als könne er mich hören.
    »Einer hatte eine Feldflasche«, sagte er, »ein anderer ein Stück Schnur. Wir banden sie an die Feldflasche und ließen sie vom Zug baumeln. Durch die Bewegung schöpfte sie Schnee. Wenn die Flasche voll war, zogen wir sie hoch und ließen den Schnee in unseren Mündern schmelzen. Dadurch überlebten wir.«
    Nach vier Tagen erreichten sie Mauthausen in Österreich. Der schreckliche Ruf dieses Steinbruchlagers war selbst bis nach Auschwitz gedrungen. »Wir dachten, es wäre unser Ende, aber wir waren zu erschöpft und zu müde, um uns Sorgen zu machen«, sagte Ernie. »Man warf uns etwas Brot hin, und wir stürzten uns darauf. Aber ich bekam nichts ab, denn niemand teilte, was er an sich raffen konnte. Alle, die das Glück hatten, etwas in die Finger zu bekommen, verschlangen es, ehe die anderen herankonnten.«
    Schon bald verbreitete sich die Nachricht, Mauthausen sei überfüllt, und es hieß, dass sie woandershin verlegt würden. Ernie rückte sich auf seinem Sessel zurecht, während er sprach. Seine Miene war angespannt, aber er gab sich immer noch sachlich, beinahe gelassen. Der Zug war weitergefahren, doch Ernie schien es nicht über sich zu bringen, davon zu erzählen, was als Nächstes geschah. Er atmete tief durch; seine Augenwinkel waren rot, und er schüttelte ungläubig den Kopf. Er versuchte ein gezwungenes Lächeln. Dann stieß er hervor: »Ich habe mein Augenlicht
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