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Das wahre Leben

Titel: Das wahre Leben
Autoren: Milena Moser
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Die Kriegerinnen
    Die Mädchen standen im Krieger. Stämmige Beine, Knie gebeugt, Arme hochgereckt, zitternde Hände, grimmige Mienen.
    Â«Noch einmal», sagte Nevada. «Einatmen: ein-, zwei, drei – und ausatmen: aus-, zwei, drei.»
    Mit beiden Händen trieb sie den Rollstuhl zwischen den Yogamatten hindurch, drückte da ein Knie tiefer, zog hier eine Hand höher. Nevada dachte an ihre erste Stunde mit diesen Mädchen zurück. Sie hatte nicht gewagt, sie anzufassen. Drei Wochen später hatte das tägliche Üben sie einander nähergebracht. Der Saal war überhitzt, Schweißgeruch hing in der Luft.
    Sie wusste, dass sie heute eine bessere Yogalehrerin war als vor dem Ausbruch ihrer Krankheit. Wenn sie nicht müde war, wenn sich die Schmerzen an den Rand ihres Bewusstseins zurückgezogen hatten. Die Krankheit hatte sie gelehrt, dass es um die Wirkung einer Übung geht, um ihren Inhalt und nicht um die Form. Diese Wirkung konnte auf viele Arten erzielt werden. Statt sich auf den Kopf zu stellen, konnte man sich auch einfach im Rollstuhl nach vorne beugen und den Kopf über die Knie hängen lassen.
    Früher hatte sie ihren Anspruch, den Körper zu beherrschen, auf ihre Schüler übertragen. Sie hatte ihnen vorgemacht, dass die Ausführung einer schwierigen Asana eine Leistung war, die sie auszeichnete. Eine Leistung, die belohnt würde. Sie hatte das Unmögliche von ihnen verlangt. Diese innere Stimme, die sie antrieb, solange sie denken konnte, und der sie nie genügte, war verstummt. Die Krankheit hatte sie zum Schweigen gebracht.
    Der Stuhl war schmal und wendig. Ihre erste Stunde hatte sie noch auf Krücken gegeben. Damals war sie kaum aufgestanden. Sie war den Mädchen nicht nähergekommen. Der Stuhl war eine echte Hilfe, gestand Nevada sich ein, wenn auch ungern.
    Sie rollte zwischen den schwitzenden Kriegerinnen hindurch. «Bildungsferne Umgebung», hatte die Schulpflegerin gesagt. «Kulturell bedingte Verhaltensauffälligkeiten», die Sozialarbeiterin.
    Â«Wir müssen die Jugendlichen erwischen, bevor sie ganz aussteigen», sagte der Schulleiter, der sich diesen Versuch ausgedacht hatte und einer ihrer langjährigen Yogaschüler war. «Solange sie noch in der Schule sind. Bevor sie durch alle Maschen fallen.»
    Was heißt bildungsfern?, wollte Nevada fragen. Was heißt verhaltensauffällig? Nevada war am Zürichberg aufgewachsen, sie hatte das Gymnasium besucht, nicht lange zwar, aber immerhin. Trotzdem wusste sie, wie es sich anfühlte, durch die Maschen zu fallen. Durch die Maschen fiel man in einem unbeobachteten Moment. Vielleicht war das ihre eigentliche Aufgabe: diese Mädchen im Blick zu behalten.
    Rebecca, siebzehn, magersüchtig, die dünnen Arme bedeckt von Schnittwunden, kurze Striche in ordentlichen Reihen, die älteren schon weiß verblasst, die neueren rot leuchtend. Rebecca hielt die Stellung perfekt, obwohl sie kaum noch Muskeln hatte. Oder Fleisch. Als Einzige schwitzte sie nicht, sie lächelte beifallheischend, als Nevada an ihr vorbeikam. Nevada vermied es, sie zu berühren, sie fürchtete, die spröden Knochen würden unter ihren Händen brechen.
    Deniz, Zahnspange, rosa Plastikschmetterlinge in den Haaren, vierzehn Jahre alt, im zweiten oder dritten Monat schwanger. Nevada legte eine Hand auf ihren Schenkel und drückte ihn in den rechten Winkel. Tief im weichen Fleisch zitterte ein Muskel.
    Â«Und noch einmal: ein-, zwei, drei …»
    Die Mädchen stöhnten. Arme schwankten in der Luft wie Schilf. Gebeugte Knie streckten sich unwillkürlich wieder, Oberschenkel zitterten. Elma, in der hintersten Reihe, Schultern aus Stahl. Bei der geringsten Berührung würde sie ausschlagen wie ein Pferd. Elma keuchte.
    Â«Durch die Nase atmen», murmelte Nevada. «Langsam. Ein-, zwei, drei, vier – und aus-, zwei, drei, vier …» Sie wollte die Mädchen im Alltag begleiten, sie wollte ihnen zeigen, wie sie während einer Prüfung weiteratmen, wie sie gerade in der Schulbank sitzen können. Wie sie ihr Essen Bissen für Bissen genießen, wie sie einer Drohung ausweichen.
    Â«Fuck», stöhnte es aus der hintersten Reihe. Das war Suleika, das neue Mädchen, rotgesichtig und verschwitzt in ihrem schwarzen, zeltartigen Überwurf. Unmöglich zu sagen, ob ihre Knie gebeugt waren. Nur schon die Arme über den Kopf zu heben war bei
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