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Der Lockvogel

Der Lockvogel

Titel: Der Lockvogel
Autoren: Chris Morgan Jones
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seine Krawatte gerade und ging den Weg zu Marinas Haustür hinauf.
    Sie betätigte den Türöffner, ohne etwas zu sagen. Als er die Treppen hinaufstieg, war ihm bewusst, wie klebrig er sich fühlte, wie schmutzig von Flughäfen und Flugzeugen und Taxis.
    Marina erwartete ihn auf dem zweiten Treppenabsatz. Sie trug ein einfaches dunkelgraues Kleid und ein schwarzes Umhängetuch. Gegen das Schwarz wirkte ihre Haut fast weiß. Sie trug kein Make-up, und ihr Haar war zurückgebunden, sodass nichts die Aufmerksamkeit von ihren Augen ablenkte: trocken, müde, ein seltsames Licht schien hinter ihrem Grün zu leuchten. Sie streckte die Hand aus, und er setzte seinen Koffer ab, um sie zu ergreifen.
    »Mr. Webster.«
    »Mrs. Lock.«
    »Bitte.«
    Er folgte ihr in ein Wohnzimmer, das auf die Straße hinausblickte. Hellgraue Sofas, ein cremefarbener Teppich, rechts an der Wand ein Konsolentisch mit Fotografien in einfachen Silberrahmen: eine von Lock, gebräunt und lächelnd, jünger, sein blassblaues Hemd aufgeknöpft, hinter ihm unscharf grasgrüne Bäume; ein Schwarz-Weiß-Bild, auf dem er ein Baby anschaute, das er im Arm hielt.
    »Bitte nehmen Sie Platz.«
    Webster setzte sich auf einen Sessel mit dem Rücken zum Fenster, Marina auf ein Sofa zu seiner Linken, die Hände im
Schoß gefaltet, die Augen ruhig auf ihn gerichtet. Er legte die Blumen auf einen Couchtisch, der vor ihm stand.
    »Danke, dass Sie mich empfangen«, sagte Webster. »Ich … ich wollte Ihnen sagen, wie sehr es mir leidtut.« Er schaute nach unten, rieb die Hände aneinander. »Wirklich. Ich wollte …« Er konnte keine Worte mehr finden.
    »Mr. Webster, ich danke Ihnen. Bitte verstehen Sie, dass ich wenig über Sie weiß. Ich weiß, dass Sie meinem Mann geholfen haben. Er redete über Sie, als er anrief. Er sagte, dass er Hilfe hatte, und ich nehme an, er meinte Sie. Ich bin Ihnen dafür dankbar. Aber davor haben Sie ihn verfolgt. Ich kenne Sie nicht, und ich muss Sie nicht kennen. Ich bin nicht daran interessiert, über Sie zu urteilen. Ich hatte ihm gesagt, dass er Sie anrufen soll, also habe vielleicht auch ich eine Rolle gespielt.«
    Ihre Stimme war ebenmäßig und präzise, mit einem gleichmäßigen Rhythmus. Webster fühlte sich leicht beschämt angesichts ihrer Beherrschtheit.
    »Ich wollte Sie sehen, Mr. Webster, weil … ich will, dass Sie mir sagen, wie er starb. Ich will wissen, was geschehen ist, seit ich ihn hier das letzte Mal gesehen habe. Er hat angerufen, aber er hat nichts gesagt. Ich möchte es erfahren.«
    »Das kann ich tun. Ich kann es Ihnen sagen.«
    Webster sagte ihr, was er wusste. Er ließ nichts aus: nicht seine Fehler, nicht seine Schuld. Und er sagte ihr, was er glaubte: dass man Lock getötet hatte, um ein Geheimnis zu schützen; dass das Geheimnis tatsächlich sicher war; dass sie niemals wissen würden, wer die Verantwortung trug.
    »Was ist mit Konstantin?«, fragte Marina.
    »Er ist zurück in Moskau. Die Deutschen haben keine Anklage erhoben. Sein Bodyguard wurde wegen versuchter
Entführung verhaftet.« Er machte eine Pause. »Ich vermute, dass man ihn bald still und leise in den Ruhestand schicken wird. Wenn er nicht zu gefährlich ist.«
    »Als … als Richard erschossen wurde, was tat er da? Konstantin.«
    »Er ging weiter. Als ich aufschaute, war er verschwunden. Ich sah ihn wieder, nachdem sie ihn auf dem Flugfeld verhaftet hatten. Sie brachten ihn auf die Polizeiwache, als ich dort saß. Er sagte mir, es tue ihm leid wegen Richard. Auf Russisch. Er wusste wohl, dass ich es verstehe.«
    Marina nickte, ihre Augen umwölkten sich.
    »Mein Eindruck war«, sagte Webster, »dass er es ernst meinte.«
    »Aber er ist weggegangen.« Ihre Stimme war leise, und beide schwiegen einen Moment lang. »Und wie war er an dem Morgen? Richard. Wie erschien er Ihnen?«
    »Als hätte er eine Entscheidung getroffen. Der Mann, den ich in London traf, hatte Angst. An diesem Tag hatte er keine Angst.«
    Wieder schwiegen beide einen Moment lang. Marina rieb sich die Augen und schaute zu Boden.
    »Er hat etwas zu mir gesagt, als er im Sterben lag«, sagte er.
    Marina reagierte nicht. Sie saß da mit der Hand vor den Augen.
    »Er sagte: ›Ich will, dass Vika es weiß. Dass ich es war.‹«
    Marina nahm die Hand von den Augen und sah ihn an. Tränen standen in ihren Augen. Sie wischte sie weg.
    »Was bedeutet das?«
    »Dass Malin am Ende war. Dass Richard getan hatte, was er hatte tun wollen.«
    Marina sagte nichts.

    »Ich weiß nicht, was
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