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Der Lilienring

Titel: Der Lilienring
Autoren: Andrea Schacht
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übernahm die Rolle der Erzählerin.
    »Das Tagebuch selbst beginnt im Jahr 1810, und zwar an dem Tag, als Marie-Anna in den Haushalt des Valerian Raabe eintritt.«
    »Valerian Raabe?«, quiekte Cilly. »Da isser ja wieder, der Valerius Corvus!«
    »Richtig, da ist er wieder. Ich denke, wir werden einiges über ihn zu hören bekommen. Später, denn ihr seht,
hier sind einige lose, beschriftete Blätter und Zeitungsausschnitte, die früher datieren. Sie geben Aufschluss darüber, wie die zu diesem Zeitpunkt siebenundzwanzigjährige Französin nach Köln kam. Ich habe versucht, die Vorgeschichte zu rekonstruieren. Manches ergibt sich aus den historischen Gegebenheiten, anderes habe ich nach bestem Wissen versucht, in einen Zusammenhang zu bringen. Marie-Anna scheint schon von ihrer Kindheit an ein recht bewegtes Leben geführt zu haben, und gelegentlich hat sie besonders beeindruckende Erlebnisse schriftlich festgehalten.«
    »Das ist ja alles in Französisch geschrieben!«, stöhnte Cilly, die die Blätter betrachtete.
    »Ja, und darum werde ich dir die Geschichte auch auf Französisch erzählen.«
    »O Gott, nein!«
    »Nein?«
    »Ich hab’ schon die letzte Französischarbeit versiebt, weißt du!«
    »Umso mehr könntest du Nachhilfe brauchen.«
    »Ich dachte, das sei hier Freizeit und keine Schulstunde.«
    »Nicht für die Schule...«
    »Anita, reiz mich nicht!« Cilly, ebenso blond wie Rose, aber schlaksiger und von herberen Gesichtszügen als ihre Schwester, funkelte mich an. Sie konnte gelegentlich aufbrausend sein, war jedoch durch ein kleines Zwinkern von mir sofort wieder besänftigt. »Du willst mich nur auf die Schippe nehmen, nicht?«
    »Du reagierst so schön schnell darauf, kleine Rakete!«
    »Können wir jetzt anfangen, Anita?«, fragte Rose sanft.
    »Ja, wir fangen an.«
    Und ich erzählte, was sich im Jahr 1795 in der Bretagne abgespielt haben musste.

Unterlagen 1

4. Kapitel
    Bretagne, 1795 – Flucht
    Marie-Anna lief mit fliegenden blonden Zöpfen die Allee entlang. Das goldbraune Laub raschelte unter ihren Füßen. Erst hinter der Colombière, dem steinernen Taubenhaus, das wie ein riesiger Bienenkorb vor dem Tor hockte, hielt sie an. Es war nicht das ideale Versteck. Charles würde sie zu schnell finden. Der Sohn des Verwalters, wie sie selbst zwölf Jahre alt, hatte sie wie üblich aufgestöbert, als sie sich verbotenerweise aus dem Schloss gestohlen hatte, um die Eichhörnchen im Park mit Nüssen zu locken. Nicht dass es gefährlich war, die possierlichen Nager zu füttern, aber die Zeiten waren nicht danach, ungehindert die schützenden Mauern des Anwesens zu verlassen.
    Das Chateau Kerjean lag einen gut dreistündigen Fußmarsch vom Meer entfernt inmitten von Flachsfeldern. Es war eigentlich kein richtiges Schloss, eher ein gro ßes Landgut. Doch der Vorfahr, der es im siebzehnten Jahrhundert gebaut hatte, ließ sein Anwesen mit einem Wassergraben und einer turmbewehrten Mauer umgeben, weniger um es gegen kriegerische Auseinandersetzungen zu schützen, als der Mode der Zeit zu folgen, die der Festungsbauer Vauban geprägt hatte. Der jetzige Gutsherr, Brior de Kerjean, hatte weder Lust noch Geld, diese Spielerei mit Wachleuten zu besetzen. Sein Anliegen galt der Landwirtschaft und der Leinenherstellung. Er exportierte das Rohleinen meist über den Kanal nach England und hatte dort verlässliche Abnehmer.
    Marie-Anna lugte um die Colombière, Charles war
nicht zu sehen. Sie hatte ihn also doch abgehängt, dachte sie zufrieden. Ihre Genugtuung endete in genau dieser Sekunde, als sie sich an den Zöpfen gepackt fühlte.
    »Du meinst wohl, ich könnte es mit einem spillerigen Mädchen wie dir nicht aufnehmen, was?« Charles, strohblond, mit einem grinsenden, aber freundlichen Gesicht, war hinter ihr aufgetaucht und schnaufte noch etwas von dem raschen Lauf. »Hör mal, du sollst nicht alleine den Hof verlassen, hat deine Maman angeordnet.«
    »Na, ich bin ja nicht allein. Du schleichst mir doch ständig hinterher.«
    »Mademoiselle Sophy hat dich gesucht!«
    »Die sucht mich immer, und wenn sie mich findet, verlangt sie, dass ich meine Stickarbeiten mache. Äh!«
    »Trotzdem, Marie-Anna, es ist nicht gut, wenn du dich hier draußen alleine aufhältst. Du weißt doch, wie viel Gesindel sich hier herumtreibt. Und seit dein Vater verschwunden ist...«
    »Mein Vater ist nicht verschwunden! Er wird bald zurückkommen!«
    Traurig sah Charles das Mädchen an. Ob Brior, der Herr von Kerjean zurückkam,
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