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Der Lilienring

Titel: Der Lilienring
Autoren: Andrea Schacht
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hilflos. Der Eindruck verlor sich spätestens dann, wenn man sie mit glühender Glasschmelze hantieren sah. Wenn sie auch nicht Julians musikalisches Talent geerbt hatte – ihre Gesangsproben veranlassten zufällige Zuhörer, spontan die Finger in die Ohren zu stecken -, so entfaltete sie ihre künstlerischen Gaben doch auf anderem Gebiet. Sie hatte eine Ausbildung als Glasdesignerin gemacht und etablierte sich gerade als eigenständige Künstlerin. Julian hatte ihr vor drei Jahren geholfen, sich mit einem kleinen Atelier selbständig zu machen, und ihr auch die ersten Aufträge verschafft. Zunächst arbeitete sie wertvolle Glaswaren auf, dann aber hatte sie sich einen gewissen Ruf im Restaurieren alter Bleiglasfenster erworben. Nach meinem Unfall, als ich mit Schmerzen und Operationsterminen zu kämpfen hatte und nicht in der Lage war, die Stelle anzutreten, auf die ich mich beworben hatte, machte sie mir das Angebot, in ihrer Werkstatt mitzuhelfen. Mit Scherben konnte ich gut umgehen, der Rest lernte sich schnell. Vor allem aber nahm ich Roses Öffentlichkeitsarbeit in die Hand, und gemeinsam übten wir uns darin, ihre eigenen Werke dem Publikum vorzustellen. Es gelang recht gut. Jetzt nahmen ihre künstlerischen Arbeiten beinahe gleichberechtigten Raum neben dem Restaurieren der Glasfenster ein.

    Rose traf ich am nächsten Morgen in ihrer Werkstatt. Sie hatte sich in den vergangenen zwei Wochen erholt und wirkte entspannt und gelassen. Selbst Kommissarin Frederika hatte sie nicht aus der Fassung bringen können, wie ich beruhigt feststellen konnte. Zwar war ihr Verschweigen von Julians Besuch belastend, jedoch nicht wirklich ein haltbares Indiz dafür, dass sie ihm eine Überdosis Beruhigungsmittel verabreicht hatte. Sie hätte es tun können, aber schließlich waren da noch immer weitere elf Stunden, in denen wer weiß was geschehen sein konnte. Auch die Tatsache, ihre erste eigene Ausstellung abbrechen zu müssen, machte ihr weniger Kummer, als ich dachte.
    »Weißt du, solange die Öffentlichkeit sich noch an der ›geheimnisvollen Tochter‹ weidet, ist es besser, ich halte mich im Hintergrund. Außerdem habe ich genug zu tun. Sieh mal, hier ist ein Fenster aus dem neunzehnten Jahrhundert. Hat man im Keller einer alten Villa gefunden, vermutlich war es im Zweiten Weltkrieg ausgebaut und gesichert worden. Beim Entrümpeln sind die Erben des Hauses darauf gestoßen und würden es jetzt gerne wieder einsetzen.«
    Wir betrachteten das farbenprächtige Fenster mit seinen floralen Motiven und Medaillons. Die einzelnen Glasstückchen hatten sich stellenweise aus der Verbleiung gelöst, manche waren zerbrochen, andere fehlten. Ein Puzzle war ein Kinderspiel dagegen. Aber Rose war sehr geschickt darin, Fehlendes zu ergänzen und Splitter an die richtige Stelle einzufügen. Meine Erfahrung darin half auch, und uns beiden kam eine solche Arbeit gerade recht.
    Außerdem gab es da noch das Tagebuch.
    »Anita, hast du inzwischen Zeit gehabt, die Eintragungen zu übersetzen?«, fragte Rose, als wir die Tür der Werkstatt am späten Nachmittag hinter uns schlossen.
    »Habe ich, und wenn du Lust hast, bring Cilly nachher mit, dann erzähle ich euch, was ich über Marie-Anna de Kerjean herausgefunden habe.«
    Julian hatte Rose bei seinem letzten Besuch ein altes Tagebuch mitgebracht und sie gebeten, es zu lesen. Doch da meine Schwester noch in derselben Nacht zusammen mit Sophia zu einem Urlaub nach Australien aufgebrochen war, hatte sie dieses Heft unbeachtet auf ihren Schreibtisch gelegt. Als sie zurückkamen und von Julians Tod erfuhren, war es irgendwie in Vergessenheit geraten, und erst kurz vor Ostern hatte sich Rose wieder daran erinnert und es mir gegeben. Ich hatte es aufgeschlagen und war wie vom Donner gerührt. Es beinhaltete die Aufzeichnungen einer jungen Frau, die zu Beginn des 19. Jahrhunderts in Köln gelebt hatte. Sie hieß Marie-Anna, und in dem Haushalt, in dem sie angestellt war, gab es eine Rosemarie und eine Graciella. Nun hatten die beiden anderen Geschichten, die wir aus Julians Vermächtnis rekonstruiert hatten, ebenfalls von drei Frauen mit ähnlichen Namen gehandelt. Darum waren wir jetzt überaus neugierig, ob uns dieses Tagebuch möglicherweise den Schlüssel dazu geben konnte, woher Julian seine Inspirationen bezogen hatte – und was er damit bezwecken wollte.
    Wir saßen also an diesem Abend zusammen in meiner Wohnung, Cilly hatte den Laptop bereit, Rose machte den Mundschenk, und ich
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