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Der Lilienring

Titel: Der Lilienring
Autoren: Andrea Schacht
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mich natürlich in ein Idealbild von Valerius verliebt. Eines, das nach Julians Vorgaben gebildet und von mir mit meinen eigenen Wünschen gestaltet worden war.
    Aber Valerius Corvin war ein ganz realer Mensch, geprägt von seiner persönlichen Vergangenheit, ein Mensch mit seinen Fehlern und Vorzügen, seinen Eigenarten, seinen Wünschen und Hoffnungen. Vor allem aber war er ein Mann, der genaue Vorstellungen von seinem Leben hatte. Er war ein Mann der Gegenwart, und sein Wollen und Handeln standen in keinem Zusammenhang mit dem der Männer in den drei Geschichten. Würde ich an ihm zweifeln, weil er weder der mächtige Valerius Corvus noch der väterliche Hrabanus, noch der tolerante Valerian Raabe war? Würde er sich
an der Vergangenheit messen lassen? An dem Wunschbild von einem Mann, einem Geliebten, einem Freund, einem Partner – an dem Bild, das die Geschichten in mir geweckt hatten?
    Wie von ferne klang das »Lied« in mir auf, und ich vermeinte, die Stimme von Julian, dem Barden, zu hören.
    »Und wenn du willst, gedenke, und wenn du willst, vergiss.«
    Über den sternenübersäten Himmel flammte plötzlich eine goldene Spur. Die verzauberte Welt in mir hatte mir ein äußeres Zeichen gegeben.
    »Julian, danke«, flüsterte ich leise zu den Sternen empor. Dann drehte ich mich um und ging zu Valerius zurück. Er lächelte mir zu.
    »Nun, mein Herz?«
    »Es stimmt, Valerius, es wird nicht eben leicht werden. Aber ich kann es nicht ändern, ich will mit dir zusammen sein. Denn ohne dich wird es einfach nicht mehr gehen. Vergessen werde ich dich nie wieder können.«
    Er rührte sich nicht. Ich legte ihm meine Hände auf die Brust und sah zu ihm hoch.
    »Willst du wirklich?«, fragte er heiser.
    »Ja, Valerius – gerne.«
    Er zog mich an sich und berührte mit dem Finger leicht die Narbe über meiner Lippe, bevor er mich küsste. Wir gingen nach oben, Arm in Arm. Dann kam der Augenblick, in dem wir beide nebeneinander im Bett lagen und der Mond unsere Körper in silbernes Licht tauchte. Ich spielte mit den grauschwarzen Locken auf seiner Brust, zog mit den Fingernägeln Streifen über die Haut, wo sie am zartesten war, und fühlte dann seinen Herzschlag. Er streifte das Band ab, das meinen Zopf zusammenhielt, und löste die Flechten. Dann legte er die Haare über meinen Körper. Sie verdeckten meinen
Busen, doch nicht ganz. Sanft streichelte er ihn. Wie elektrische Ströme durchzog es meinen Leib. Seine Berührung wurde fester, und mein Atem ging schneller.
    »Dieses Foto, Ana. Es hat mich schier wahnsinnig gemacht.«
    »Welches?«
    »Das mit der Träne. Warum hast du geweint, Ana?«
    »Weil ich mich nach dir sehnte.«
    »Ist das wahr?«
    »Ja.«
    Mit einem Finger strich er wieder über die Narbe in meinem Gesicht, dann über meine Lippen. Doch er küsste mich nicht, er sah mich nur an. Durch das Dachfenster sah man das sternenfunkelnde Firmament, und das Meer rauschte leise sein ewiges Lied.
    »Ich liebe dich, Ana.«
    Ich konnte kaum atmen.
    Zeiten und Welten später konnte ich es wieder. Ich lag halb auf, halb neben ihm und fühlte mich weich und nachgiebig. Für eine Weile war die Sehnsucht befriedigt, ihr Ziehen und Zerren besänftigt. Sie würde wiederkommen, und das war vermutlich gut so. Das Begehren war ebenso gestillt. Aber auch das würde wiederkommen.
    »Mein Herz. Mein Leben.«
    »Geliebter.«
    »Du bist schön und wild, sanft und grausam. Bleibst du bei mir?«
    »Willst du das Risiko eingehen?«
    Mit einem leisen Lachen antwortete er: »Gerne!« Und dann löste er sich von mir und nahm etwas von dem Tischchen neben dem Bett.
    »Ich habe etwas mitgebracht, Ana, das seit langer Zeit in unsere Familie gehört. Wahrscheinlich mit einer gewissen Hoffnung in meinem Herzen. Es würde mich
sehr glücklich machen, wenn du diesen Ring hier tragen würdest.«
    In seiner Hand lag der goldene Ring aus dem Römergrab. Aus kleinen Stäbchen zusammengesetzt, die jeweils in Kügelchen endeten. Innen war die Schrift eingraviert.
    Omnia Vincit Amor.
    Ich sah ihn an, und Schauder erfassten mich.
    »Was ist, meine Geliebte?«
    »Ich traue mich nicht, ihn auch nur in die Hand zu nehmen, Valerius. Zu viele Erinnerungen sind daran geknüpft.«
    »Erinnerungen? Kennst du den Ring?«
    »Valerius, ich habe dir von dem Römer erzählt, an den du mich erinnerst. Ich werde dir noch heute Nacht die Geschichte von Titus Valerius Corvus und Annik, der Barbarin, erzählen müssen. Und danach die von Hrabanus Valens und der
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