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Der Lilienring

Titel: Der Lilienring
Autoren: Andrea Schacht
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er berührte mich nicht. Das war auch gut so, denn ich bereute meine voreilige Frage schon. Es wäre zu einfach gewesen, mich ihm in die Arme zu werfen und mich darin zu verlieren. Er schien das ebenso zu verstehen, und seine Stimme war leise und ein wenig heiser, als er sagte: »Ana, wenn du irgendwann zu mir kommen möchtest, dann...« Er schüttelte den Kopf und sah mir dann sehr gerade in die Augen. »Ana, ich scheine besser zu schlafen, wenn ich deinen Herzschlag spüre.«
    Ich vermied es mit äußerster Anstrengung, ihn nur anzusehen.
    »Lass uns weitergehen.«
    Die kleine Mole lag links von uns, das andere Haus rechts auf einer kleinen Anhöhe.
    »Gérard fährt manchmal fischen, was mir hin und wieder Spaß macht. Früher hatten wir ein Segelboot hier liegen, aber es gab einen Unfall...«
    »Ich weiß.«
    »Vor neunundzwanzig Jahren. Ich war siebzehn, und ich begegnete dem Tod. Ich wäre beinahe ebenso ertrunken wie meine Schwester und ihr Mann. Dabei habe ich so etwas wie ein Grenzerlebnis gehabt, Anahita. Ich habe es nie vergessen, wie ich von einer schönen, jungen Frau ins Leben zurückgerufen wurde. Hätte sie es nicht getan, ich wäre wohl gestorben.«
    »Vor neunundzwanzig Jahren, als ich geboren wurde.«
    »Ja, mein Herz.« Er sah zu den Booten hinunter, die träge auf den funkelnden Wellen schaukelten. »Es ist überaus seltsam, Ana. An jenem Tag, als ich dich zum ersten Mal getroffen habe, hatte ich kurz vor dem Erwachen einen sehr lebhaften Traum, der mir diese Phase wieder in Erinnerung rief. Ich sah sogar die Frau wieder, konnte sie aber nicht erkennen. Ich hatte schon lange
nicht mehr an den Unfall gedacht – die Zeit heilt auch solche traumatischen Erfahrungen. Aber nun sehe ich es wieder deutlich vor mir, was damals geschah. Mit Falko im Arm wurde ich hier angespült, Gérards Frau hat mich gefunden.«
    »Er ist verheiratet?«
    »Du wirst sie gleich kennen lernen. Eine echte Bretonin. Wenn sie Französisch nicht verstehen will, dann verfällt sie in die alte Sprache. Aber sie kocht und backt wundervoll. Meistens versorgt sie uns, wenn wir hier sind. Gewöhnlich findet man sie in der Küche oder im Garten. Dort ist sie.«
    Zwischen den Gemüsebeeten kniete eine ältere Frau und hackte die Erde auf. Als sie uns kommen sah, schenkte sie uns ein Willkommenslächeln, und mit einem Schwung, der ihr Alter Lügen strafte, erhob sie sich vom Boden. Doch dann ging sie nicht auf Valerius zu, sondern direkt auf mich.
    »So bist du also heimgekehrt, Herrin der Insel.«
    »Ja, Mutter Tekla. Der Rabe hat mich nach Hause gebracht.«
    »Wie er versprach. Sei willkommen, Annik.«
    Sie wischte ihre erdigen Hände an der Schürze ab und drehte sich zu Valerius um.
    »Ich habe schon gesehen, dass ihr wieder hier seid, Valerius. Ich habe einen Auflauf vorbereitet. Ich bringe ihn euch nachher ins Haus.«
    »Tekla, das hier ist Anahita, sie wird vielleicht zu mir ins Haus ziehen.«
    »Ich hoffe, du kannst sie überreden, eine Weile hier zu bleiben.«
    »Das hoffe ich auch.«
    »Zwei Wochen ungefähr«, sagte ich, und sie strahlte.
    »Kommen Sie gelegentlich vorbei, hier habe ich selten eine Frau zum Schwatzen.«

    Wir überließen sie ihrer erdigen Tätigkeit, und Valerius verarbeitete mal wieder eine neue Erfahrung.
    »Sie hat dich einen Moment sehr seltsam angesehen, Anita, ich hatte fast Angst, sie würde etwas Unüberlegtes äußern. Es heißt, sie habe das zweite Gesicht. Hat sie etwas an dir gesehen, was ich nicht sehe?«
    »Ja, aber es ist kein Geheimnis. Du erinnerst dich doch daran, wie perplex ich war, als ich dir in dem Juwelierladen begegnete, weil ich dich bereits zu kennen schien?«
    »Mehr als genau, Ana. Du sprachst von dem Römer, der auch Valerius hieß.«
    »Titus Valerius Corvus, der sich in die keltische Töpferin verliebte. In Annik, die Herrin dieser Insel. Sie hatte eine Prophezeiung erhalten von einer Seherin, die sie Mutter Tekla nannte. Sie weissagte ihr, der Rabe würde sie einst auf diese Insel zurückführen. Tekla hat mich willkommen geheißen, und ich habe ihr bestätigt, dass der Rabe mich heimgeführt hatte.«
    »Aber ihr spracht nicht miteinander.«
    »Ja, das war ein kleines Wunder, nicht wahr? Aber sie hat nicht nur das zweite Gesicht, sie hat im selben Atemzug von einem Auflauf gesprochen, Val. Und wenn ich es recht bedenke, habe ich seit gestern Abend nichts mehr zu essen bekommen. Ich fürchte, ich bin hungrig.«
    »Dann werden wir sofort zum Haus zurückkehren und diesem
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