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Der letzte Schattenschnitzer

Der letzte Schattenschnitzer

Titel: Der letzte Schattenschnitzer
Autoren: Christian von Aster
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Mandelbrodt.
     
    Der Limbus war noch immer mit Staunen erfüllt. Mehr und mehr Schatten wurden – erst ungläubig – von der Freiheit ergriffen und berauschten sich dann an ihrer neuen Macht. Längst waren Hunderte von ihnen hinaus in die Welt, in die neugeborenen Körper der Menschen gedrungen und hatten begonnen, die Schatten der Welt mit dem Willen zur Rebellion zu infizieren.
    Auch das Dunkel im Inneren der Zuflucht hatte sich von einer Sekunde auf die andere verändert. Selbst bis in den Keller der Hütte drang die endzeitliche Finsternis, die sich über die Welt gelegt hatte. Doch nicht nur sie herrschte dort unten, denn nun hatten auch die Schatten der Titanen den Ort erreicht, waren an den Söldnern vorbei bis zur Hütte vorgedrungen und durchströmten die alten Mauern. Dabei wurden sie jedoch nicht von Zorn oder Vergeltung vorangetrieben, sondern vielmehr von dem Wunsch nach Erlösung . Genau für diesen Zweck hatte der Alte sie aus den Kerkern des Rates befreit. Er hatte die Titanen nicht gegen Ambrì gesandt, sondern in die Freiheit entlassen. Und es gab nur einen einzigen Weg, über den sie in den Limbus eingehen konnten: Ripleys Tor.
    Jonas spürte, wie die ehrfurchtgebietenden Schatten gemächlich an ihm vorbei auf das flackernde, langsam verblassende Tor zumarschierten. Einer nach dem anderen verformte sich und glitt geradezu majestätisch durch das schwindende Tor. Ungläubig starrte Jonas ihnen nach.
    Dann stutzte er mit einem Mal. Er war sich nicht sicher, doch er glaubte, dass der Körper in seinen Armen sich ganz sacht bewegt hatte! Und dann bemerkte er es: Maria atmete !
    Als er in ihre Augen blickte, sah er sie plötzlich blinzeln. Wie viel wunderbarer war dieser Anblick, als alles, was er je zuvor erlebt hatte!
    Marias Blick war wirr. Er glich dem eines Neugeborenen, doch das wunderte Jonas nicht. Denn erst jetzt, in diesem Augenblick, kam Carmen Maria Dolores Hidalgo wahrhaftig in die Welt. Sie stammelte und sabberte. Speichel lief über ihre Unterlippe und troff auf den Ärmel des Jungen. Und dann, während er sie im Arm hielt, lächelte sie ihn an. Nachdenklich blickte Jonas sie an. Dann wandte er sich an seinen Schatten.
    »Da du deinen Willen bekommen hast, will ich nun meinen einklagen.« In diesen kühlen Worten lag nichts mehr von der einstigen Nähe und Vertrautheit, die den Herrn einmal mit seinem Schatten verbunden hatte.
    Der Angesprochene horchte auf. Er spürte Jonas’ Blicke auf sich und war, obwohl sein Plan sich erfüllt hatte, zu diesem Zeitpunkt doch schon nicht mehr vom Gefühl des Triumphs erfüllt. Stattdessen spürte er eine eigenartige Leere in seinem Dunkel. Seiner persönlichen Rache wegen hatte er die Welt ihrem Verderben ausgeliefert. Diese Gewissheit lastete so schwer auf ihm, dass die Worte seines Herrn kaum zu ihm durchdrangen.
    »Du hast dieses Tor geschaffen, damit auf diesem Weg das Eidolon in den Limbus eingehen konnte …«
    »Ja …«
    »Doch auch die Titanen habe ich hindurchfließen sehen, und nach allem, was du mich lehrtest, verrate mir eines noch, bevor wir uns trennen: Was kann durch dieses Tor in die Welt der Schatten eingehen?«
    »Alles, was nicht Schatten ist.«
    Kaum dass er diese Antwort vernahm, war Jonas Mandelbrodt zufrieden. Denn er begriff endlich, was seine Bestimmung war, verstand, warum er die Dinge hatte verstehen müssen. Der Schatten des Engels hatte ihm die Schöpfung gezeigt. Ihre Abgründe, ihre Menschlichkeit und die Magie darin. Auf den Spuren der Verschwörung der Schattensprecher hatte der Wächter ihm alles offenbart. Selbst Der Alte hatte seinen Teil zu Jonas’ Erkenntnis beigetragen und ihm Türen des Verstehens geöffnet. Was Jonas begriffen hatte, war, dass das Leben der Menschen unvollkommen war. Und dass in dieser Unvollkommenheit zugleich seine Schönheit lag, die er vor wenigen Augenblicken erst im Lächeln Marias erkannt hatte. Dieses Mädchen war nicht seine Verbündete, das war es nie gewesen. Maria war ein gewöhnliches Mädchen. Vor wenigen Augenblicken erst neu geboren, ein Symbol eines Lebens, das es zu schützen galt und nach dem Jonas Mandelbrodt sich so verzweifelt gesehnt hatte. Er selbst jedoch war nicht dazu ausersehen, dieses Leben oder irgendein anderes zu führen.
    Er war geboren worden, um eine einzige Entscheidung zu treffen.
    Und genau das tat er in diesem Moment.
    Zuvor aber wandte er sich noch einmal seinem Schatten zu:
    »Ich werde durch dieses Tor gehen, um die Welt der Schatten zu lehren,
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