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Der letzte Schattenschnitzer

Der letzte Schattenschnitzer

Titel: Der letzte Schattenschnitzer
Autoren: Christian von Aster
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Haus zu Haus, die Straße zur Hütte des Wächters hinauf.
     
    Als er die Zuflucht erreichte, wagte er nicht einmal mehr, seine Sinne hinter sich zu richten. Zu sehr fürchtete er die zahlreichen Monster der Antike, die sich im Widerschein der Mündungsfeuer näherten, um Marias und seinen Schatten zu verschlingen.
    Jonas glitt durch den Zaun, spürte die falschen Krähen, die teilnahmslos in das Tal hinabstarrten. Auch die Hunde dösten lieber im Schatten, als hinabzueilen und mit ihren fürchterlichen Fängen die Bannzeichen der Angreifer zu zerreißen.
    Auf der Schwelle saß Malachias, ein altes Gewehr auf dem Schoß, bloß noch ein Schatten seiner selbst, und starrte stumm in das Tal hinunter. Er nahm den Schatten des Jungen nicht einmal war, als dieser an ihm vorbei ins Innerste der Hütte glitt.
    Die oberen Räume waren leer, er spürte weder eine Ahnung Marias noch des Wächters. Nicht einmal sein eigener Körper befand sich dort, wo er ihn zurückgelassen hatte.
    Jonas floss tiefer in die Hütte, über die Treppe und in die dunkle Kammer hinab. Und dann konnte er sie spüren. Dort in der Finsternis stand der Schatten des Engels, die Schwingen ausgebreitet, so dass seine äußersten Federn die Wände des Kellers berührten. Unter seinem rechten Flügel erkannte Jonas seinen eigenen Körper, der zu Füßen des Wächters am Boden lag. Maria stand hoch erhobenen Hauptes unter seinem linken Flügel. Jeder Rest Kind war aus ihrem Inneren gewichen, ihre schwarzen Augen ganz eins mit der Finsternis.
    Jonas konnte wahrnehmen, wie ihr falscher Schatten ihn selbst, den Engel und das Mädchen im Dunkel umfloss. Ungläubig gewahrte er die Anwesenheit eines weiteren Schattens. Deutlich zeichnete sich gegen die Schwärze der Umriss von Erzsebet Stiny ab. Und noch etwas war dort im Dunkel. Etwas, das er zuvor noch nie gespürt hatte … Bevor er aber dieses fremde Etwas weiter ergründen konnte, ließ plötzlich die erhabene Stimme des Wächter die Schwärze erzittern:
    »Tritt ein in das vollkommene Dunkel, Jonas Mandelbrodt. Gesell dich zu uns, komm in unsere Mitte und werde Zeuge, wie die Schatten ihre Vollkommenheit erlangen …«
    Jonas tat, wie geheißen. Sein Schatten tat einen Schritt in die Finsternis hinein, hin zu dem Engel, dem Mädchen, dem Eidolon. Er war bereit, die letzten Antworten zu finden, den Plan des Alchemisten und seine eigene Rolle darin zu verstehen.
    Welch ein kraftvolles Dunkel ihn hier unten im Keller der Zuflucht aufnahm! Gemeinsam, das spürte er, würden diese Schatten sich allen Titanen und Armeen der Welt entgegenstellen können!
    Wer hätte ihnen trotzen sollen?
    Der Wille des Wächters, den sie alle umflossen, lenkte ihr gemeinsames Dunkel. Jonas hörte Mademoiselle Stiny von ihrem Pakt mit dem Eidolon wispern, wie ihr Schatten – wenn erst das Dunkel die Welt beherrschte – in neuer Pracht erstarken würde. Er vernahm das Eidolon selbst, das die Welt den Schatten opfern und sie von der Menschheit heilen wollte. Und er hörte Cassus’ Schatten, der immer noch ganz der Diener war und dumpf die Worte des Eidolons nachplapperte. All diese wispernden Stimmen aus Dunkelheit und Irrsinn aber übertönten nun die Worte des Wächters:
    »Fürwahr, mein Junge, du hast alles gesehen und verstanden, und nun bist du gekommen, um deinen rechtmäßigen Platz in unserer Mitte einzunehmen …«
    Demütig näherte sich Jonas dem Schatten des Engels. Und in seinem eigenen Dunkel formte sich leise die alles entscheidende Frage:
    »Was aber ist mein Platz?«
    Von einem Moment auf den anderen verstummten die anderen Schatten. Dann aber erklang mild die erhabene Stimme des Wächters:
    »Hast du es denn immer noch nicht verstanden? Schau uns an. In unserer Mitte fehlt bloß noch ein Einziger.«
    Jonas schauderte. Der spontane Gedanke, der durch sein Dunkel schoss, war so unmöglich, dass …
    »Du hast recht. Es fehlt niemand Geringeres als der Alchemist selbst. Und nun, da du endlich in uns weilst, sind wir vollständig. Denn du, mein Junge, bist George Ripley …«
    Nein! Jonas schrie auf. Das war unmöglich! Wie hätte es sein können? Er war Jonas Mandelbrodt, seit seiner Geburt gefangen zwischen den Schatten und den Menschen! Er war kaum zehn Jahre alt, er …
    Doch der Schatten des Engels barg alle Antworten. Wie gerne hätte Jonas sie nicht gehört.
    »Sein Schatten, mein Junge, hat dich gefunden. Ich selbst befreite ihn vor über vierzig Jahren, als Erzsebet Stiny ihren Sohn Cassus gebar, der ihm als
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