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Der letzte Schattenschnitzer

Der letzte Schattenschnitzer

Titel: Der letzte Schattenschnitzer
Autoren: Christian von Aster
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Kinder zu befinden schien, erstand wie aus dem Nichts eine Engelsskulptur aus schwarzem Eis.
    Und dann sprach der Wächter seine letzten Worte:
    »Mit mir, Jonas, schwindet auch meine Magie. Die Tore Ambrìs werden offen stehen. Wer immer es will, wird es einnehmen können.«
    Nun schienen selbst seine Worte nach und nach zu gefrieren.
    »Was immer du auch tust, du wirst es schnell tun müssen. Und was immer es sein wird: Es ist deine Bestimmung. Du allein entscheidest über die Zukunft allen Lebens.«
    Dann zersprang der Schatten des Engels in unzählige Splitter aus uralter Dunkelheit, die durch die Finsternis schwirrten und mit den verbliebenen Schatten zerschmolzen.
    Im gleichen Moment begann seine Magie zu schwinden, so wie der Wächter es ankündigt hatte. Die vollkommene Finsternis in der unterirdischen Kammer wich einer gewöhnlichen. Die Gestalt gewordenen Schatten von Cassus, der Stiny und Jonas hoben sich gegen sie ab. Deutlich waren die Leiber der beiden Kinder zu erkennen.
    Und noch etwas anderes füllte jetzt den Raum. Unter der Zuflucht, in der Schatzkammer des Wächters erhob sich ein Tor, wie aus einem einzigen gigantischen Schatten geschnitzt. Es war mit einem komplexen Schließmechanismus aus Bolzen, Zahnrädern und drei finsteren Schlüssellöchern gesichert. Alles aus Schatten gefertigt, nicht greifbar und beinahe unwirklich. Ein Tor aus reinster Finsternis, mit Scharnieren aus Schatten und einem Schloss aus tiefschwarzer Nacht …
    Flankiert von den Dienern des Eidolons stand Maria noch immer reglos inmitten des Raumes. Ihre schwarzen Augen aber funkelten beim Anblick des Tores, als wären sie von einer unirdischen Kraft erfüllt.
    Jonas’ Körper lag noch immer leblos am Boden. Doch als der Junge seinen Schatten zu ihm zurücklenken wollte, da ließ dieser es nicht zu! Er wandte sich gegen seinen Herrn, und der Junge erschrak vor seinem eigenen Schatten …
     
    Wie nahe, wie köstliche nahe war mir in dem Moment meine Rache gekommen! Ich frohlockte im Angesicht des Tores, das ich einst geschaffen hatte, um meiner Kreatur im Inneren des Mädchens den Weg in die Schatten zu bereiten. Längst vergessene Erinnerungen fluteten mein Dunkel, und ich begriff, dass ich mehr als bloß der Schatten dieses Jungen war. Dass ich ihn nicht erwählt hatte, um ihn zu lehren, sondern um nach fünfhundert Jahren einer fleischlosen Existenz im Schatten meinem eigenen, längst vergessenen Selbst eine angemessene Form zu geben. Ich hatte diesen Knaben zu einem Abbild meiner selbst gemacht. Er war ebenso ein Gefäß für mich wie Maria für das Eidolon. Was scherte er mich noch. Nun, da mein Ziel in greifbare Nähe gerückt war? Ich war nicht geschaffen, einem Kind zu dienen! Ich war auf der Welt, um Rache für meine verstorbenen Freunde und die Vernichtung der Schule der Schattenschnitzer zu nehmen. Um Schattenrat und Kirche zu trotzen, das Gleichgewicht Lügen zu strafen, die Schatten von ihren Ketten zu befreien und Gottes Schöpfung in ihre Hände zu legen! Und nichts und niemand würde mich, George Ripley, den letzten Schattenschnitzer, jetzt noch aufhalten …
     
    Was immer er je für Jonas empfunden hatte, ihr schicksalhaftes Bündnis, all das schien vergessen. Verdrängt von Hass und Wut, die so lange schon in ihm goren. George Ripley wollte Rache! Er wollte die Menschheit den Schatten opfern. Er wollte das Tor öffnen und das Eidolon in den Limbus lassen!
    Jonas aber kämpfte dagegen an. Mit aller Macht drängte sein Schatte in Richtung des Tores. Der Junge aber stemmte sich mit der gesamten Kraft seines Willens dagegen. Für einen kurzen Moment schien sein Schatten sogar stillzustehen, drohte schier zu zerreißen. Dann aber gewann Ripleys Wut die Oberhand.
    Der Schatten schnellte auf das Tor zu, glitt daran empor und bäumte sich auf, um sich im nächsten Moment in das mittlere der Schlüssellöcher zu versenken. Gleich darauf zerflossen Cassus und Erzsebet Stiny, drängten ebenfalls am Tor empor und versenkten ihre Schatten in den übrigen Schlüssellöchern. Jonas schrie auf, verraten von seinem eigenen Schatten und kaum mehr als ein hilfloses Werkzeug.
    Und während Zahnräder aus reinem Dunkel sich leise klickend drehten, nachtschwarze Bolzen sich zurückschoben und das Tor in den Limbus sich öffnete, machten die Schatten sich bereit für ein neues Zeitalter …

John Dee
    ALCHIMIA UMBRARUM (1604)
    Kapitel XI
    (Seite 112 f.)
     
    VOM TREULOSEN SCHATTEN
     
    W isse, dass dein Schatten nicht
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