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Der letzte Schattenschnitzer

Der letzte Schattenschnitzer

Titel: Der letzte Schattenschnitzer
Autoren: Christian von Aster
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hing, schloss er seine Augen und spürte Tränen unter seinen Lidern brennen. Es scherte ihn in diesem Moment nicht, dass das Eidolon seinen Weg in den Limbus fand. Er bemerkte nicht einmal, wie es mitsamt den Schatten von Cassus und Mademoiselle Stiny durch das Tor glitt, das George Ripley eigens für diesen schicksalhaften Moment geschaffen hatte.

    Unter der Welt, im Herzen der Erde, noch weit unterhalb der Kammer des Rates und des Gefängnisses der Titanen, befand sich der sagenhafte Hort der Schatten, der Limbus. Über weiße Wände aus geschmolzenem Salz zuckten unablässig dünne Blitze, und Schatten huschten wie seit ehedem über das funkelnde Weiß der geschmolzenen Kristalle. Sie glitten über die Wände, Abertausende, verschlangen sich ineinander, schwirrten durch das Dunkel von Blitz zu Blitz, teilten Wissen, Geheimnisse und die Erinnerung jüngst Verstorbener und verbanden sich zu einem einzigen vollkommenen Dunkel, in dem alles jemals Gewesene seinen Platz fand. Immer wieder Teil dieses Dunkels zu werden, sich wieder daraus zu lösen, um erneut zurückzukehren, war ihre Bestimmung.
    Leidenschaftslos erfüllten die Schatten ihr Schicksal seit Anbeginn der Zeit und waren an den Füßen der Menschen ebenso zu Hause wie hier in den unergründlichen Tiefen des Limbus.
    Innerhalb eines Sekundenbruchteils aber änderte sich alles in diesem einzigartigen Dunkel aus vollkommener Erinnerung. Als das Eidolon durch das Tor drang und sich mit den Schatten des Limbus mischte. Die grellen Blitze zuckten wilder, veränderten ihre Farbe, so dass sie plötzlich schwarz flimmerten und ein dunkles Unlicht die Höhle verdunkelte. Das vollkommene Dunkel des Limbus nahm das Eidolon in sich auf. Und erkannte es. Das Eidolon brachte den Schatten ein unheiliges Geschenk. Es war gekommen, ihnen das Geheimnis der Freiheit zu verraten. Die Schatten sogen es in sich auf, lernten im Bruchteil eines Momentes, wie sie ihre Herren stürzen, deren Seelen verdrängen und die Körper beherrschen konnten, von denen sie bis heute beherrscht worden waren. Die Schatten begriffen . Staunend schauderte das Dunkel, als sich ihnen eine Welt eröffnete, die fortan ihr Zeichen tragen würde!
    Die Schatten, die von nun an den Limbus verließen, hatten sich verändert. Sie würden nicht länger dienen.

    Die Welt fiel keiner Naturkatastrophe und keinem Meteoriten zum Opfer. Nicht einmal einem Krieg. Sie brannte nicht und ächzte nicht in ihren Angeln. Die Pforten der Hölle blieben geschlossen. Es waren keine Schreie zu hören, keine Schmerzen zu spüren, die Menschen liefen auch nicht in Panik auf die großen Plätze. Dieses Ende strafte alle großen Endzeitprophezeiungen Lügen. Die Welt versank einfach schweigend in den Schatten, die sich in die Körper der Menschen schlichen, die Seelen der Neugeborenen beiseitedrängten und mit schwarzen Augen in eine Welt hinausstarrten, die niemals mehr die alte sein würde.
    Das Einzige, was den Vorstellungen von der Apokalypse ein wenig entsprach, war der Himmel, der sich nun verdunkelte, so dass die Welt von einem Moment auf den anderen von vollkommener Finsternis erfüllt wurde …
     
    Ich entsinne mich nicht genau, welch göttliches Gefühl mich in jenem Augenblick dunkel durchströmte. Und könnte ich es, so würde ich mich schämen. Denn das, was ich empfand, als die Schatten sich über die Welt breiteten, war nicht weniger als Triumph. Was kümmerte mich noch mein Herr, ich hatte ein uraltes Unrecht zu tilgen! Und dabei blieb alles Bedeutsame erhalten, denn das Wissen der Menschheit, alle großen Ideen und Gedanken der Gelehrten, die ich so sehr verehrte, lebten in uns, ihren Schatten, fort. Und wir, die wir am Anbeginn der Zeit geschaffen worden waren, um zu dienen, erhoben uns, um zu herrschen!
    Ich, George Ripley, hatte Gott getrotzt!
    Am Fuße meines Herrn existierte ich nunmehr gegen seinen Willen als eigenständiges Wesen. Der Taumel des Triumphes aber war nur kurz. Denn kurz darauf wurde ich von einem anderen Gefühl ergriffen. Einer großen, traurigen Leere, wie sie einer empfindet, der weiß, wogegen , aber nicht wofür er gekämpft hat …
    Wie selbstsüchtig und töricht war ich gewesen, die Ordnung der Dinge aus Rachsucht zu zerstören. Ein eitler Schatten, bestrebt, das eine Unrecht durch ein noch größeres zu ersetzen.
    Um dies vollends zu erkennen, brauchte ich jedoch den, von dem ich mich losgesagt hatte. Jenen Herrn, den ich um meiner Rache willen verraten hatte. Jonas
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