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Der letzte lange Sommer: Island-Roman (German Edition)

Der letzte lange Sommer: Island-Roman (German Edition)

Titel: Der letzte lange Sommer: Island-Roman (German Edition)
Autoren: Dagmar Trodler
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wilden Eingangsbereich sah dieser Raum so unbewohnt aus wie eine Jugendherberge. Doch Lies war zu müde, um darüber nachzudenken, und hatte sich gleich nach dem Essen zum Schlafen verabschiedet.
    In ihrem Zimmer jedoch wurde sie wieder munter, denn es war fürchterlich kalt – es gab nämlich keine Heizung. Die einzige Heizung im ganzen Haus war offenbar dieser bullernde Ölofen in der Küche. »Pfffff...« Vergiss die Küche. Ihr Gaumen lechzte nach einem Stück Schokolade. Andächtig wickelte sie einen Riegel aus dem Silberpapier – einer von vieren, die noch da waren. Deswegen biss sie auch nur ein Stück ab und packte den Rest wieder in die Nachttischschublade. Dieser Ort machte nicht den Eindruck, als ob man problemlos an Schokolade herankommen würde …
    Nachdenklich sah sie sich um. Schrank, Stuhl. Eine nackte Glühbirne. Die Gardinen vor dem Dachfenster schienen hundert Jahre alt zu sein und schafften es, dünnfaserig wie sie waren, nicht mehr, den Raum zu verdunkeln. Und draußen wollte es irgendwie nicht so recht dunkel werden. Zum wiederholten Mal stand sie auf und sah aus dem Fenster. Stets dasselbe Bild: ein schrottreifer Traktor, eine verrostete Egge, eine Reifensammlung, ein blaulackierter Öltank. Dazwischen drei herumstreunende Schafe, die im harschen Schnee scharrten. Eins sah immer wieder in ihre Richtung. Ein Grauschwarzes mit weißer Blesse und endlos langen Rastahaaren. Seine Kiefer bewegten sich emsig kauend, unverwandt starrte es sie aus wässrig kalten Augen an. Was willst du hier? Wer bist du? Es sah nicht sehr freundlich aus. Schneeflocken tanzten durch die Luft und bedeckten die gelblich grauen Grasreste, die die Tiere sich freigescharrt hatten. Der Himmel wurde grauer. Hoffnung glomm in Lies auf, dass es vielleicht doch richtig dunkel werden würde – aber nein. Weit nach Mitternacht, und nichts als staubig finstere Dämmerung, die mit langen Fingern an den Gerätschaften fummelte, doch nichts vollständig zu bedecken vermochte. Sie drang durch das Fenster und stieg an Lies’ Beinen hoch. Zudem zog es durch die Fensterritzen. Sie würde sie ausstopfen müssen, bevor sie im Schlaf erfror, doch womit nur... Schafwolle vielleicht, davon gab es hier sicher genug.
    Die Schokolade schmolz langsam an ihrem Gaumen. Süß und dickflüssig floss der Saft die Kehle herab – wunderbar. Ein kleines Stück Schokolade rettete den beschissenen Abend. Wer hätte das gedacht.
    Auf dem Nachttisch stand eine alte Petroleumlampe. Lies suchte nach einem Feuerzeug im Rucksack und brachte sie zum Brennen. Die Petroleumlampe war zwar gnadenlos altmodisch, doch durch das Licht draußen wirkte es gleich erlösend dunkler. Mit dem sanften Öllicht gewann das Mobiliar an Freundlichkeit, und sie machte sich auf Entdeckungsreise. Vielleicht sollte sie doch mal den Koffer auspacken? Sie könnte auch die Jacke ausziehen, die sie immer noch trug. Sie war wie ein Panzer gegen Kälte und Unfreundlichkeit. Aber nun gab es ja Licht und vielleicht auch ein bisschen Wärme. Mit dem Pulloverstapel in der Hand öffnete sie die Schranktür, zählte die Regalbretter. Eins für Pullis, eins für Unterwäsche, eins für die Hosen. Eins für alles andere. Die Bretter waren mit altem Zeitungspapier ausgelegt, und eine uralte Flasche Parfüm stand einsam, schlank und unnahbar wie eine Madonna auf dem obersten Brett. Tosca . Mit dem Zeigefinger schob sie sie zur Seite, um die Pullis abzulegen. Das Zeitungspapier war mit den Jahren so dünn geworden, dass es riss, und darunter kam ein weiteres Stück Papier zum Vorschein. Ein altes Schwarzweißfoto. Ein Foto von einem jungen Mann in Uniform, die Fliegermütze keck auf dem Blondschopf sitzend, mit dem Rücken lässig gegen einen Flugzeugpropeller gelehnt. Ein irgendwie unheimlicher Gruß aus der Vergangenheit.
    War das Elías selbst? Sein Sohn? Bruder? Ob es noch Familie gab?
    An der Schrankinnenseite hingen weitere Fotos. Bilder von Island aus längst vergangenen Zeiten, Höfe, Berge, ein Fischkutter. Vermummte Menschen am Gletscher, struppige, kleine Pferde mit hohen Rückenlasten und gesenktem Kopf.
    Gedankenvoll schraubte sie den Parfümflaschenverschluss auf und roch an der Flasche. Erinnerungen an die Oma stiegen in ihr hoch. An ein düsteres Schlafzimmer, wo es stets nach Fußcreme roch und nach Weihwasser, weil sie täglich darauf wartete, vom Herrgott abberufen zu werden. Der jedoch hatte anderes zu tun und ließ sie am Leben. Omas Toscafläschchen war sicher zwanzig Jahre
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