Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der letzte lange Sommer: Island-Roman (German Edition)

Der letzte lange Sommer: Island-Roman (German Edition)

Titel: Der letzte lange Sommer: Island-Roman (German Edition)
Autoren: Dagmar Trodler
Vom Netzwerk:
er sich nun doch, nestelte in seiner Brusttasche und zog den Brief heraus. »Er hat es im Krankenhaus geschrieben. Letztens. Sein Testament. Nach dem Feuer hat er sein Testament geschrieben, Lies. Nach dem Feuer.« Sein Blick brannte auf ihrem Gesicht – er sagte mehr als seine Worte.
    »Aber...« Ihr fiel nichts weiter dazu ein. Kreuz und quer ging es durch ihren Kopf, unvollständige Sätze, Zahlen, Schwachsinn. Wirrwarr. Gunnarsstaðir. Feuer. Schwachsinn.
    Sanft wischte er die Haare aus ihrem Gesicht. »Er schreibt, dass du Gunnarsstaðir übernehmen sollst. Es gibt keine weiteren Erben für den Hof. Du sollst Elías’ Erbe sein, Lies.«
    Sie richtete sich auf. Kerzengerade.
    »Was«, flüsterte sie heiser. »Ich verstehe nicht...«
    »Doch«, sagte er leise. »Du verstehst, Lies Odenthal. Es ist Elías’ Wille. Lies. Wirst du hierbleiben? Wirst du auf Gunnarsstaðir bleiben?«
    Sie stand auf, ihr schwindelte. Jói griff nach ihrer Hand. Der Wind stob zum Tor herein, traf ihr Gesicht. Komm , rief er, ich helf dir denken . Jóis Griff wurde fester – so fest, dass es wehtat.
    »Bitte bleib. Lies.« Dann ließ er los und ließ sie gehen. Sie sah ihn an, und das, was der Wind mit ihren Haaren veranstaltete, ähnelte dem, was in ihrem Kopf vorging. Wildes Durcheinander, die Haarwurzeln schmerzten, und sie konnte kaum klar denken. Der Mann vor ihr war mit daran schuld, obwohl er erst so kurz in ihrem Leben stand, nur einen Fuß hineingesetzt hatte, und sie kannte ihn ja kaum... aber das war nicht mehr wichtig. Er kannte sie, und sein Blick war abwartend. Und sie verstand, dass er sie jetzt nicht stören würde.
    Lies stapfte hinaus, riss sich im Vorbeigehen eine alte Pferdedecke vom Haken und verließ die Scheune. Der Wind triumphierte, sie endlich hervorgelockt zu haben, und trieb sein Spiel mit ihr. Energisch stemmte sie sich gegen die Böen, vorwärts, vorwärts, vom Hof weg, weg vom Hof, weg …
    Es trieb sie, wie wohl jeden Bewohner von Gunnarsstaðir, zu den Klippen. Das begriff sie, als sie den Pfad entlangmarschierte. Harscher Schnee türmte sich zu beiden Seiten, als ob ihn jemand extra für sie geräumt hätte.
     
    Sie wischte den Schnee beiseite und kauerte sich auf den Felsblock, der Elías stets als Sitzgelegenheit gedient hatte, und vor ihm vielleicht Anna Bryndís oder Palli oder deren Vätern. Eine Kuhle im Stein flüsterte, dass Generationen hier gesessen hatten, gegrübelt, gedichtet, geweint, gelacht hatten. Doch das spielte jetzt keine Rolle mehr.
    »Warum nicht?«, flüsterte Lies. Der Stein schwieg dazu.
    Dämmerung fiel über das Land wie ein schwerfälliger grauer Vorhang, und das Wetter beruhigte sich. Wolken zogen hin und her, gaben nach einigem Zögern den Himmel frei, damit die Sterne später gucken konnten, was es Neues auf Erden gab. Und da gab es so einiges.
    Lies polsterte sich den Po mit der Pferdedecke und starrte vor sich hin. Ihr Kopf war vollkommen leer. Selbst der Wind hatte von ihr abgelassen, und die Jökulsá murmelte nur vor sich hin. Elías war fort. Der Sturm hatte ihn am Morgen weggetragen und eine seltsame Ruhe hinterlassen. Lies beugte sich vor, um in die Schlucht hinabzublicken, die ihr so viele Male Angst eingejagt hatte. Das vergehende Tageslicht gab sich alle Mühe, ihr die Einzelheiten noch einmal deutlich zu zeigen, bevor es dahinging. Ihr Blick kletterte an Eiszapfen und Felsvorsprüngen herunter, grüßte frierende Möwen und verharrte vor Spalten, wo sich im Sommer Nester befunden hatten. Niemand wohnte mehr darin, frühwinterliche Ruhe war auch hier eingekehrt. Das Rauschen des Flusses kam näher. Sie spürte die Gischt auf den Wangen und wollte den breiten Felsblock besteigen... er war fort.
    Lies beugte sich weit vor und starrte in die Tiefe.
    Es war zwar dämmrig, doch das Licht reichte aus: Der Felsbrocken mit dem schwarzen Kreuz, von Elías’ schuldbewusster Hand vor vielen Jahren in den Stein gehämmert, war fort. Schmutzig graues Gletscherwasser gurgelte vor sich hin, Reste der Flutwelle, die Erdreich und Steine mit sich gerissen hatte …
    Anna Bryndís’ düsterer Grabstein war fort.
    Jæja , plätscherte die Jökulsá, jæja .
    »Wo ist er hin?«, flüsterte Lies. Fort , rauschte der Fluss, fort . Dort, wo er gelegen hatte, floss das Wasser nun glatt und flüssig vorwärts, durch nichts mehr gestört oder aufgehalten, einfach geradeweg. Der Wind kam kalt und ernst vom Gletscher herunter, und er brachte Klänge mit. Lies horchte auf. Die Luft war
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher