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Der letzte lange Sommer: Island-Roman (German Edition)

Der letzte lange Sommer: Island-Roman (German Edition)

Titel: Der letzte lange Sommer: Island-Roman (German Edition)
Autoren: Dagmar Trodler
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ihr hoch, »im nächsten Jahr bist du wieder dabei. Auf dem weißen Pferd. Ohne zu erfrieren.«
    Lies rührte grimmig in der Teigschüssel, das beruhigte. Ein Vulkan. Eine Flutwelle. Im nächsten Jahr. Wer konnte schon wissen, was im nächsten Jahr war …
    »Wo ist Elías?« Jói hielt inne.
    »Er hat sich hingelegt.« Sie betrachtete sein feuchtes Haar, wie es sich in Locken an den Kopf legte und wie sich seine Augenbrauen beim Essen bewegten. Wie die Muskeln seines Kiefers tanzten und wie die dichten schwarzen Wimpern flatterten. Betrachtete die Falte auf der Stirn, die steiler wurde, wenn er nachdachte …
    »Hmhm.« Er aß schweigend weiter, während die Männer Geschichten erzählten, spannende Geschichten, gefährliche Geschichten, erlogene und wahre und längst vergangene Geschichten, von Schafen auf Anhöhen und von Pferden, die in Felsspalten stürzten, von tapferen Männern, die auszogen, sie zu suchen, von wilden Reitern, von Wassermassen, die Höfe wegschwemmten, und von aussichtslosen Unternehmungen, die die Elfen vereitelten …
    »... und das Fohlen wurde niemals gefunden. Es war ein gutes Fohlen, sag ich dir. Teufel auch. Sie suchten alle Felsspalten ab. Hjalmar sagte später, er wüsste sicher, dass die Elfen es geholt hätten. Es ist nämlich bei der Geburt ein blaues Fohlen gewesen.«
    »Blaue Fohl’n hol’n die Elfe’n«, nickte Tilli, »hol’n die Elf’n, jaja.«
    »Die Elfen.« Lies grinste. »Doch eher der Wolf, oder?«
    »Lies – es gibt keine Wölfe auf Island«, sagte Ari ernst.
    »Aber – gibt es blaue Fohlen?«
    »’s gibt blaue Fohl’n, jaja. Bei der Geburt sin’ s’ blau.«
    »Blaue Fohlen.« Kopfschüttelnd trocknete sie den Teller ab. Was für ein Unsinn. Trotzdem setzte sie sich wieder an den Tisch und versuchte, den Geschichten um blaue Fohlen und wilde Reiter zu folgen.
    Jói schob den Stuhl zurück und stand auf. Brummelte irgendwas von »Elías« und »kann doch nicht sein« und verließ die Küche. Der Spitz winselte vor der Türschwelle, doch niemand bat ihn in die Küche. Türen quietschten, Ari lachte über einen Nachbarn. Tilli stopfte Tabak hinter die Lippe. Dann war es ganz still für einen Moment. Lies’ Hand mit dem Brotstück sank auf den Tisch.
    Die Küchenuhr war stehen geblieben.
    »Lies.« Seine Stimme, obwohl nicht laut, drang durchs ganze Haus. »Lies. Komm.«
    Der Stuhl kippte und fing sich wieder, das Brotstück fiel auf den Teller. Ari goss sich Kaffee ein.
    Jói stand in der Tür zu Elías’ Schlafzimmer. Als er sie kommen hörte, streckte er die Hand nach ihr aus und packte sie fest. Sie drängte sich neben ihn in den Türrahmen, ihr Herz klopfte wild, weil sie doch wusste, was sie sehen würde. Elías lag auf seinem Bett, lang ausgestreckt und in den Kleidern, in denen sie ihn auf der Klippe gefunden hatte. Er hatte die Hände auf der Brust gefaltet, und er atmete nicht mehr. Jói nahm ihre Hand. Lange standen sie dort in der Tür, dicht nebeneinander, schweigend. Ohne ein Wort zu verlieren, war er gegangen …
    Nein, das stimmte nicht. »Er hat sich bedankt«, sagte Lies da leise, »er hat sich bei mir bedankt.« Tränen rannen über ihr Gesicht, die Nase lief, und als sie zum Abwischen den Ärmel benutzte, ließ Jói ihre Hand los und nahm sie in die Arme, ganz locker nur, um sie nicht zu bedrängen, und es tat gut – so gut.
    Stille umgab sie. Nicht mal die Balken knackten wie sonst, und auch der Wind, der an dieser Hausecke immer so laut heulte, hielt sich rücksichtsvoll zurück. Elías Böðvarssons Schlafzimmer wurde zu einer Welt in einer Blase. Es gab keine Verbindung mehr nach draußen. Vom Türrahmen aus konnten sie hineinsehen, und sie sahen das Ende einer langen, tragischen Geschichte. Lies’ Kopf sank gegen Jóis Schulter. Der Pullover roch nach Pferd und nach Mann. Sie spürte, wie sein regelmäßiger Atem ihren Kopf hob und senkte. Ihre Tränen tropften auf seinen Ärmel, eine nach der anderen. Durch die Vorhänge schimmerte die hinwegdämmernde Sonne und hauchte friedliches Licht über das Bett. Die Zeit hatte angehalten, zusammen mit der Küchenuhr – gestern, heute, ewig – es spielte keine Rolle mehr.
    Die Zeit hatte angehalten auf Gunnarsstaðir.
    Jói ließ sie los und betrat den Raum. Er setzte sich neben Elías auf die Bettkante und legte seine Hand auf den Arm des Alten. »Jetzt ist es gut«, sagte er leise. »Jetzt ist alles gut. Es hat lange gedauert, mein Freund. Aber jetzt ist alles wieder gut.«
    Die Züge des
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