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Der letzte lange Sommer: Island-Roman (German Edition)

Der letzte lange Sommer: Island-Roman (German Edition)

Titel: Der letzte lange Sommer: Island-Roman (German Edition)
Autoren: Dagmar Trodler
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alten Mannes hatten sich geglättet, er lag dort, als schliefe er. Lies trat näher. Elías’ Hände, sonst so arthritisch steif, dass er kaum mehr einen Knopf schließen konnte, waren beinahe mühelos ineinander gefaltet, und an seinem kleinen Finger steckte der goldglänzende Ehering von Anna Bryndís.
    Er hatte sie wieder.
    Lies kniete auf dem alten Flickenteppich nieder. Die Stimmen der Männer aus der Küche drangen nur undeutlich zu ihnen, sie verschloss sich dem Lärm. War es Trauer, was sie fühlte? Bedauern? Oder wieder Einsamkeit, weil hier ein Abschnitt zu Ende gegangen war, der auch sie betraf, der ihr Leben komplett verändern würde? Es kostete sie Mühe, den alten Mann anzuschauen. Seine fahlen Wangen, die Augen, die nun in tiefen, umschatteten Höhlen ruhten, das schmale Gesicht, das der struppige Bart stets verborgen hatte, sein Mund, der – sonst verkniffen aufeinandergepresst – ganz entspannt geschlossen war und der alle Geheimnisse mit sich genommen hatte. War es Zufall gewesen, dass gestern die Erde gebebt hatte? Dass der Vulkan Wasser geschickt hatte? Gab es Zufälle an diesem merkwürdigen Ort?
    Nein, gab es nicht, entschied sie. Es gab keine Zufälle, und alles war für etwas gut. Gunnarsstaðir war wie ein Puzzle, alles passte am Ende zusammen. Starb ein Mutterschaf, gab es eine Amme für das Waisenlamm, ging ein Lamm dahin, nahm ein anderes seinen Platz ein. Die Wiesen gaben das Heu, das Heu ließ das Lamm wachsen, als Schaf machte es mit seinem Fleisch den Teller voll und mit seiner Wolle die Füße warm. Lies schluckte. Welches Puzzleteilchen war ihr in diesem Gefüge zugedacht?
    Elías schien auf die Frage zu lächeln. An manchen Tagen, wenn er milde gestimmt gewesen war, hatte er so sanft dreingeblickt. Die Erinnerung trieb ihr wieder Tränen in die Augen, und sie barg das Gesicht in den Händen, damit die Tränen nicht achtlos herabfielen. Sie wusste bis heute nicht, wer Elías Böðvarsson eigentlich gewesen war. Aber weil er für eine kurze Zeit ihr Gefährte in schlechten wie in guten Tagen gewesen war, zog sie sich den Hocker ans Bett und hielt zusammen mit Jói die Totenwache. Sie erinnerte sich an Moossuppe, Karamellkartoffeln und widerlichen Ahornsirup und dass er mit bärbeißigem Gesicht Lämmer ganz liebevoll streichelte, weil allein sie noch sein versteinertes Herz rühren konnten. Und sie weinte, weil er sich von ihr verabschiedet hatte, bevor er gegangen war.
    Ari und Tilli merkten irgendwann, dass der Tod ins Haus gekommen war. Betreten schoben sie sich in Elías’ enges Schlafzimmer.
    »War’n guter Mann«, sagte Tilli leise und lehnte sich gegen den Schrank. Ari setzte sich auf die andere Bettkante und nahm die schlaffe Hand seines Freundes.
    »Du wolltest deinen letzten brennivin mit mir zusammen trinken, Elías Böðvarsson«, murmelte er, »hast du den vergessen?«
    »Das hat er doch getan«, sagte Jói. »Gestern Abend hat er es getan, hast du das vergessen?«
    Sie schwiegen, und Ari mit seinem faltigen Gesicht weinte, dass die Tränen in den Barthaaren hängen blieben. Dort glitzerten sie eine Weile, dann tropften sie auf die Bettdecke. Nichts anderes störte die Stille. Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft saßen vor der Tür und webten an etwas, das niemanden mehr interessierte.
     
    »Er wollte keinen Sarg«, sagte Ari irgendwann und rieb sich die Augen. »Er wollte nie in so eine Kiste. Geht das überhaupt? Ohne Sarg?«
    Tilli zog die Nase hoch und wechselte das Standbein. »Er wollt’s Geld f’ die Kiste spar’n. Kennst’n doch.« Er grinste schief über den geschmacklosen Witz.
    Jói holte tief Luft. Seine Finger, die Lies’ Hand schon lange bargen, zuckten unwillig – dann ließen sie los, und er stand genauso widerwillig von ihrer Seite auf und zog die Nachttischschublade auf. Lies schluckte. Es schickte sich nicht, in den Sachen eines Verstorbenen herumzukramen. Nicht, wenn er zusehen konnte. Sie sah Ampullen in der Schublade, fein säuberlich nebeneinander – und unversehrt. Tabletten, Spritzen, Kanülen, nichts davon war geöffnet oder benutzt. Der Diabetes hatte freien Zutritt zu Elías’ Körper gehabt und mit Draumur und Ahornsirup ein melancholisches Fest des Siechtums gefeiert.
    Auf der Spritzensammlung lag ein amtlich aussehender Brief.
     
    Lies war so heftig gerannt, dass ihr trotz der kurzen Strecke zwischen Haus und Stall der Schweiß ausbrach. Schafe drängten um sie herum, verstellten ihr den Weg. Niemand hatte an die Schafe
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