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Die Zeitfalte

Die Zeitfalte

Titel: Die Zeitfalte
Autoren: Madeleine L'Engle
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Frau Wasdenn
    D ie Nacht war dunkel und stürmisch.
    Margaret Murry saß in ihrer Dachkammer, in eine Decke gewickelt, am Fußende des Bettes und sah zum Fenster hinaus. Die Bäume schwankten, wenn der wilde Wind sie peitschte. Die Wolken jagten nur so über den Himmel. Hin und wieder riß die Wolkendecke auf; dann guckte ein bleicher Mond durch und warf lange Schatten, die gespenstisch über den Boden tanzten.
    Das ganze Haus zitterte.
    Meg, in ihre Decke gehüllt, zitterte ebenfalls.
    Das war ungewöhnlich, denn meist fürchtete sie sich nicht vor einem Sturm. »Es liegt ja nicht allein am Wetter«, dachte sie. »Das kommt heute bloß zu allem anderen noch dazu. Das eigentliche Problem bin ich selbst. Ich, die dumme Margaret Murry, die dumme Meg, die immer alles falsch macht.«
    Vor allem in der Schule lief alles schief. Meg war eine der Schwächsten ihrer Klasse. Erst heute morgen hatte ein Lehrer ärgerlich zu ihr gesagt: »Also wirklich, Meg, ich verstehe das einfach nicht! Wie kann nur jemand, der so gescheite Eltern hat, eine so schlechte Schülerin sein? Wenn du dich nicht bald mehr anstrengst, wirst du die Klasse womöglich wiederholen müssen.«
    In der Pause hatte sie dann ein wenig herumgealbert, um ihre Wut loszuwerden. Prompt meinte eine Mitschülerin verächtlich: »Wir sind doch hier nicht im Kindergarten, Meg! Warum benimmst du dich immer wie ein Baby?«
    Und als sie endlich ihre Bücher packen konnte und sich auf den Heimweg machte, begann einer der Jungen sie zu hänseln und fragte sie, wie es denn ihrem »blöden kleinen Bruder« ginge. Da war sie dem Jungen mit ihrer ganzen Kraft auf den Leib gerückt. Und so war sie heute mit zerrissener Bluse und einer Schramme unter dem Auge nach Hause gekommen.
    Sandy und Dennys, ihre zehnjährigen Zwillingsbrüder, waren schon seit einer Stunde von der Schule zurück und wiesen sie empört zurecht: »Wenn schon geboxt werden muß, dann überlaß das gefälligst uns!«
    »Sie haben ja recht«, dachte Meg grimmig. »Ich bin zu nichts zu gebrauchen! Über kurz oder lang werden mir das alle ins Gesicht sagen. Also gut, alle außer Mutter. Aber die anderen. Alle anderen. Ach, wenn doch Vater … «
    Wenn sie an ihn dachte, kamen ihr immer noch die Tränen. Nur Mutter konnte ganz beiläufig von ihm reden. Etwa so: »Wenn euer Vater zurückkommt … «
    Zurückkommt – von wo? Und wann? Mutter mußte doch auch wissen, worüber die Leute tuschelten; sie mußte das bösartige Geschwätz doch auch gehört haben. Und bestimmt litt sie darunter nicht weniger als Meg, auch wenn sie sich nichts anmerken ließ. Stets gab sie sich heiter und zuversichtlich.
    »Warum kann ich meine Gefühle nicht auch so gut verbergen?« überlegte Meg. »Warum muß ich mir immer alles anmerken lassen?«
    Das Fenster klapperte wild im Wind; Meg wickelte sich fester in die Decke. Das graue, wollige Kätzchen, das sich auf dem Kissen zusammengerollt hatte, gähnte und zeigte seine rosige Zunge. Dann steckte es den Kopf wieder ins Fell und schlief weiter.
    Alle schliefen, alle außer Meg. Sogar Charles Wallace, ihr »blöder kleiner Bruder«, der doch seltsamerweise sonst immer wußte, daß sie noch wach lag und unglücklich war. Dann kam er, Nacht für Nacht, auf Zehenspitzen die Stufen heraufgeschlichen … Aber sogar Charles Wallace schlief heute.
    Wie konnten sie nur schlafen? Das Radio hatte den ganzen Tag Sturmwarnungen gebracht. Wie konnte man Meg da nur in ihrer Kammer und in dem wackeligen Messingbett alleinlassen? Wußten sie denn nicht, daß der Wind jeden Augenblick das Dach abdecken konnte? Und dann würde sie in die finstere Nacht geschleudert werden und irgendwo mit zerschmetterten Gliedern landen …
    Jetzt schlotterte sie am ganzen Körper.
    »Du hast das Zimmer unter dem Dach ja unbedingt haben wollen!« schalt sie sich selbst. »Mutter hat es dir überlassen, weil du die Älteste bist.« Das war eine Belohnung, keine Strafe.
    »Aber nicht, wenn es draußen stürmt; dann ist es keine Belohnung!« rief sie laut, ließ die Decke zu Boden fallen und stand auf.
    Das Kätzchen räkelte sich genüßlich und blickte Meg aus großen, unschuldigen Augen an.
    »Schlaf nur weiter!« sagte Meg. »Sei froh, daß du ein Kätzchen bist und nicht so ein Monster wie ich.«
    Als sie sich im Schrankspiegel sah, zog sie eine Grimasse. Ihre schreckliche Zahnklammer blitzte auf. Automatisch schob sich Meg die Brille zurecht, strubbelte mit den Fingern durch ihr mausbraunes Haar, bis es in wilden
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