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Der Lavagaenger

Titel: Der Lavagaenger
Autoren: Reinhard Stoeckel
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wirklich gefragt? Oder nur gedacht, dass er gefragt hätte? Also noch mal, laut und deutlich:
    Wer hat den Polen verpfiffen? Wer hat Großvater verraten?
    Ich.
    Wer sagte das eben?
    Ich, sagte der Vater und ließ sich erschöpft auf den Stuhl sinken.
    So nun weißt’ es. Pack endlich die Treter weg!
    Bertram Helder schickte einen gequälten Blick zu seiner Frau hinüber. Rosa war plötzlich so weit entfernt. Sie sah starr geradeaus.
    Bertram flüsterte: Ja, ja, ich war es.
    Rosa sagte, ohne ihn anzusehen, fast tonlos in den Saal: Ich habe es geahnt.
    Jetzt Bertram, lauter werdend und fast trotzig: Ja, ich habe es gesehen! – Der Lehrer hatte mich früh wegen Fieberverdacht nach Hause geschickt. Wär ich doch lieber im Bett geblieben, wie ich sollte. Aber so bin ich auf den Dachboden mit Karwenzels Fernglas. Wollte gucken, wie so oft, ob die Rosa schon aus der Schule ist. Aber wen ich gesehen habe, das war Hans Kaspar Brügg. Und den Polen. Wie sie über den Hof schlichen. Das hätten die nicht machen sollen. Hätten sich doch denken können, dass einer zusieht. Ob ich oder ein anderer. Bin aber nicht zur Polizei! Ich nicht! Wirklich nicht.
    Am Abend hat der Karwenzel von dem Attentat erzählt, und dass der Vater von der Rosa, der Brügg also, ein Held ist und wohl noch mehr Karriere machen wird. Habe ich noch immer nichts gesagt, dem Karwenzel schon lange nicht. Hab nur gedacht: von wegen Held. Der Brügg steckt ja mit dem Polack unter einer Decke. Hab ich gedacht.
    Hab mich umgewälzt und umgewälzt im Bett. Konnte nicht schlafen. Was soll ich bloß machen, hab ich gedacht. Ist doch der Rosa ihr Vater, hab ich gedacht. Aber den Polack, den kann man doch nicht einfach so laufenlassen, den Saboteur, den Verbrecher, den … Ich weiß nicht.
    Bin am nächsten Tag zu unserem Fähnleinführer. Was soll ich machen, sag ich, ich habe da was gesehen. Ist doch die Rosa, die … Der wusste gleich, worum es geht. Kannst mir vertrauen, Bertram, hat er gesagt. Vertrauen … der Arsch.
    Die Mutter schüttelte immer wieder den Kopf: Bertram, wie konntest du …
    Rosa … Mädel!, Bertram faltete mit zitternder Hand die Serviette, habe mich dann doch um dich gekümmert.
    Gekümmert, die Mutter war empört, gekümmert, sagst du, ich dachte, du lie…
    Natürlich, Rosa, auch das.
    Bertram sah sich hilfesuchend um. Aber ich … Rosa … Henri, Junge, der Opa, der ist doch … der ist doch schon in der Nacht vorher getürmt?!
    Dass er in der Nacht weg ist, stimmt!, rief Erdmuthe. Aber, vielleicht, Bertram, denk nach, bist du doch schon am Abend bei dem Führer gewesen? – Henri, der Hans, der hat doch bestimmt was aufgeschrieben, Tagebücher oder so?! Du musst doch was gefunden haben?! Da steht doch bestimmt drin, dass er nicht freiwillig weg ist.
    Ja, sagte Helder, ich habe etwas gefunden. Er ging zurück zur Tür und holte seinen Koffer. Aus dem Seitenfach zog er mehrere ehemals fest gebundene Schreibhefte, Hans Kaspars Aufzeichnungen, dicke Hefte in aufgequollenem Kartoneinband und mit sich lösender Fadenbindung.
    Was ist das?, fragte der Vater.
    Helder las den Titel: »Von der Kunst des Lavagehens«. Großvaters Aufzeichnungen.
    Und? Lies vor, rief Erdmuthe.
    Würde ich ja, sagte Helder, aber … Er schlug eines der Hefte auf und hob es hoch: hellblau verlaufene Tinte.
    Helder hatte noch im Krankenhaus alles durchgeblättert, kaum etwas war noch lesbar, nur noch Fragmente. Aber davon kein einziges Wort zu den Ereignissen jener Tage. Die Flut hatte gründliche Arbeit geleistet.
    Eine Tasse fiel klirrend in Scherben. Tante Erdmuthe war aufgestanden und ging zur Saaltür. Dort erst drehte sie sich um und sagte: Bertram, Rosa … es tut mir leid. Für euch. Und für mich. Ich hatte gewünscht, bis heute gewünscht, die Anzeige, von mir aus Bertrams Petzerei, hätte Hans Kaspar zur Flucht getrieben. Aber, Rosa, ich glaube, dein Bruder, der Willi, hatte doch recht. Es ist wohl doch etwas anderes gewesen, das ihn wegtrieb von uns.
    Aber Mutter, sagte Rosa, das ist doch egal, ob so weg oder so.
    Nein, sagte Erdmuthe, ist es nicht. Nicht für mich. – Eigentlich hat ihm seine anatolische Liebste das Leben gerettet. Wäre er nicht schon in der Nacht weg, hätten die ihn doch geholt. Ist doch so, Bertram? –
    Manchmal, Rosa, sagte der mit zitternder Stimme, war ich kurz davor, dir alles zu sagen.
    Und ich, sagte Rosa leise, dich danach zu fragen.
    Ach, sagte Erdmuthe und winkte ab, es war, wie es war. Und dann, an Helder gewandt: Schade,
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