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Der Lavagaenger

Titel: Der Lavagaenger
Autoren: Reinhard Stoeckel
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müsstest du da allein durch. Und hättest im Übrigen ja die Schuhe.
    Ja, Großvaters Schuhe, dachte Helder. Tante … Großmutter Erdmuthe hatte ihn also nicht nur wegen der Grünen Wituland zu dieser Reise gedrängt? Hoffte sie, dass sich noch etwas anderes in Großvaters Nachlass fände? Vielleicht die Tagebücher, von denen Keola gesprochen hatte? Um eines zu erfahren: Wer oder was hatte Hans Kaspar im Jahr 1940 zur Flucht getrieben?
    Helder wollte aufstehen, um die Kiste zu untersuchen. Doch die Krankenschwester verbot dies ausdrücklich und weigerte sich, ihn von den Drähten und Schläuchen zu befreien, die ihn neben einer spürbaren körperlichen Schwäche ans Bett banden.
    So bleibt uns Zeit, von dem zu erzählen, der sich schon Mitte der sechziger Jahre auf die Suche nach Hans Kaspar gemacht hatte: Onkel Willi.
    Es war nach Willis erstem und einzigem Ost-Besuch. Zurück in Hamburg, hatte er den Benz beim Verleiher abgegeben. Er war froh darüber, das Gefährt wieder los zu sein.Die schnitten ihm die Vorfahrt, drängelten lichthupend, überholten und tippten sich dabei an die Stirn. Nur, weil er gemächlich dahintuckerte. Er hatte Zeit. Niemand wusste besser als er, was Zeit bedeutete. Man kann ihr nicht entrinnen. Und kaum dass er seinen kleinen Uhrmacherladen betrat, fiel sie mit all dem Ticken und Tacken erneut über ihn her. Seine Augen- und Mundwinkel sanken schwer herab: Er war wieder allein. Würde es bleiben, in seinem Laden sitzen und alte Uhren reparieren, die keiner mehr haben wollte. Trotzdem würde er das tun, solange er noch seine Hände regen konnte.
    Eine Woche später erreichte ihn ein Brief seiner Mutter Henriette, die Aufklärung verlangte über die, wie sie verklausuliert schrieb, polnische Angelegenheit.
    Was sollte er antworten? Er hatte viel darüber nachgedacht und war überzeugt, zu wissen, warum der Vater damals verschwunden war. Er wusste es, seit er neben ihm auf der Treppe des Hauses gesessen und zugesehen hatte, wie der Vater seine Tigerschuhe putzte. Der Vater würde dorthin gehen, wo er schon oft gewesen war, wenn er manchmal reglos und gedankenverloren am Tisch saß. Reagierte er dann endlich auf Willis Ärmelzupfen, war es stets, als kehre er aus weiter Ferne zurück.
    Jetzt saß Willi selber so da, an seinem Arbeitstisch und ließ, was er seit seiner Kindheit nie wieder getan hatte, das Zahnrädchen einer auseinandergenommenen Uhr kreiseln. Die Welt war klein geworden, eng und garstig. Damals, auf den sonnenbeschienenen Stufen des Hauses, da war sie groß und gut, wie die Mutter, die zum Essen rief. Da war sie weit und voller Abenteuer, wie in den Geschichten von den Tigerschuhen, nach denen er aus dem großen Ohrensessel heraus immer wieder verlangte.
    Manchmal hatte Willi die Schuhe heimlich angezogen und war mit ihnen, die viel zu groß waren, über den Hof gestapft. Einmal sogar hinaus auf die Straße, über die Kreuzunghinweg, die Leipziger hinauf. Dort, in der Torfahrt eines Mietshauses, stand Bertram Helder.
    Tag, Schwager, sagte der zur Begrüßung. Das tat Bertram gern, aber nur, wenn Rosa nicht dabei war. Tag, Schwager, erwiderte Willi. Er hätte nichts dagegen, wenn Bertram die Schwester heiraten würde. Bertram konnte schon rauchen, ohne zu husten, und auf zehn Meter mit dem Messer ein in die Baumrinde geritztes Herz treffen. Dem zeigte er prahlend die Schuhe. Er bemühte sich, die Sache mit dem Tiger möglichst eindrucksvoll zu schildern.
    Doch Bertram lachte nur. Kinderkram, nie und nimmer ist das wahr.
    Bertram rannte ins Haus. Willi folgte. Bertram befahl: Warte hier!, stürmte die Treppe rauf und verschwand in der Wohnung.
    Er kam mit einer Postkarte in der Hand wieder. Sie setzten sich auf eine der Treppenstufen, und Bertram sagte stolz: Hier, das ist wahr! Er zeigte auf eine Gruppe Soldaten, die auf die Karte gemalt war. Alle trugen sie Stahlhelme und strahlten blauäugig, wie Siegfried der Drachentöter in Willis Sagenbuch. Sie standen, Gewehre und eine Panzerfaust in ihren Armen, vor einem Haus unter einem dunklen Himmel. In dem Haus war ein großes Fenster, das den Widerschein eines Feuers zeigte.
    Da, sagte Bertram, man kann das Fenster aufmachen. Nein, nicht jetzt. Er drehte die Karte um und las vor:
Wenn Deutschland den Krieg gewinnt …
Und, fragte er, haben wir schon gewonnen?
    Willi hob fragend die Schultern.
    Für fünf Zigarettenbilder?
    Willi nickte heftig.
    In diesem Moment kam Bertrams Stiefvater zur Haustür herein. Ohne Gruß und ohne zu
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