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Der Lavagaenger

Titel: Der Lavagaenger
Autoren: Reinhard Stoeckel
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ihn Schreck, Heuschreck.
    Gefräßig ist er auch. Kuchen seine Lieblingsspeise, Bäckereien sind sein bevorzugter Aufenthaltsort. Genauer: die dort befindlichen Stehtische. Denn gelassen dasitzen, noch dazu allein in einem Café, dicke Torte gabeln, eine Zeitung lesen von Seite zu Seite, mal kopfschüttelnd, mal nickend, hin und wieder die Tasse zu den Lippen führen, Leute angucken – das ist ihm unvorstellbar, das erlaubten weder seine Zeit noch sein rastloses Gemüt. Deshalb tanzen die Finger auf dem Weg von der Ladentheke zum brusthohen Tisch auf dem heißen Becher, verbrüht sich die Zunge am Kaffee, wird am Kippeltisch die Streuselschnecke in den Mund gestopft und der große Bissen schnell mit Kaffee hinuntergespült …
    Alles tat Helder in Eile. Auch die morgendliche Rasur. Rasch betupfte er die fleischlosen Wangen mit einem dezenten Rasierwasser. Er ertappte sich, wie seine Lippen, sei es bei einem Satz Susannes, bei einem seiner eigenen Gedanken oder einfach aus Gewohnheit, sich zu einem leicht schmollenden
O
formten. Er presste sie zu einem entschlossenen Querstrich zusammen. Da erhoben sich seine schmalen Brauen zu einem skeptischen
Ach
.
    Ach, nimm doch mal Grün.
    Susanne begutachtete ihre Zehen, und Helder wiederholte seinen Vorschlag: Ja, Grün.
    Wieso Grün?
    Warum nicht?
    Nein, Grün, also nein.
    Dann nimm wenigstens den Bimsstein weg.
    Der Bimsstein hatte zwar nichts mit der Farbe ihrer Fußnägel zu tun, aber das Ding, mit dem sie regelmäßig die Hornhaut von ihren Fersen schrubbte, lag wie immer auf dem Wannenrand. Und das störte ihn, wie immer.
    Und wie immer überhörte Susanne seine Bemerkung. Sie griff ihre Haarbürste, beugte sich zum Spiegel herüber, bürstete ihre exakt geschnittene Frisur und fragte Helders Spiegelbild:
    Wann kommst du heute?
    Und er sagte ihrem Spiegelbild: wie immer. Nein … Helder betastete seinen Fühler, ich glaube, ich geh erst noch zum Friseur.
    Tschüs und Bussi.
    Tschüs und …
    Das alles war nicht sehr romantisch. Doch etwas anderes war Helder nicht gewohnt. Etwas anderes hätte ihn verwirrt. Grüne Fußnägel zum Beispiel. Susanne, fand er, war eine gute Frau. Was er an ihr mochte, waren ihre Arme, ihre schönen runden Oberarme, nicht fett, nicht muskulös, einfach rund, weich und kräftig. Doch nach ihrem vierzigsten Geburtstag hatte sie begonnen, Kostüme zu tragen, selbst im Sommer keine ärmellosen Blusen mehr. Auch keine ärmellosen Nachthemden. Sie hatte seit jeher eine Neigung zu frösteln, doch war diese in den früheren Jahren ihrer Ehe von anderen Neigungen überdeckt worden. Helder war emanzipiert genug, ihre Kostüme und Nachtjacken zu respektieren. Immerhin waren ihm ihre kleinen spitzen Eckzähne geblieben, mit denen hatte sie ihn in jüngeren Jahren verführerisch zu zwicken verstanden. Spätestens aber, seit sie in Brüssel hospitiert hatte, rechnete Helder damit, diese Zähne eines Tages vom Zahnarzt rund geschliffen zu sehen.
    Weiß Gott, ihre sexuelle Bereitschaft war noch immer hinreichend und Helders Alter angemessen; die Hausarbeit hielt sich, da beide kinderlos waren, in Grenzen;und seit man ein zweites Fernsehgerät besaß, traktierte sie Helder auch nicht mehr mit Quizsendungen.
    Los, Henri, sag schnell: A, B oder C.
    Ich weiß es nicht.
    Was?
Das
weißt du nicht?! Aber das
muss
man doch wissen! B natürlich, wollen wir wetten?
    Was gibt’s denn morgen?
    Wie wär’s mit Pizza?
    Schon wieder?
    Du könntest ja auch mal kochen! Siehst du, ich hatte recht: B war richtig.
    Das Essen, nun ja, das Essen …
    Sicher erwog Helder, da seine Frau Fertiggerichte bevorzugte, das eine oder andere Mal selbst zu kochen. Manchmal nannte er sie scherzhaft seine kleine Privatkantine. Ihr im herben Bereich angesiedeltes Lächeln riet ihm jedoch, auf derlei Männerhumor zu verzichten. Immerhin boten kollegiale Geburtstage Gelegenheit, das eine oder andere leckere Törtchen oder Pastetchen zu verspeisen und so seine sinnlichen Bedürfnisse im Dienst, wenn auch nicht zu befriedigen, so doch am Leben zu erhalten.
    Übrigens hatte Helder den Beruf des Eisenbahners bewusst gewählt. Aber da gab es weder eine romantische Dampflokomotivengeschichte noch eine rührselige Spielzeugeisenbahnerinnerung.
    Nein, er wollte von Anfang an Fahrpläne erstellen. Wollte Abfahrten festlegen, Fahrzeiten berechnen, Züge koordinieren. Ein reibungsloses Netzwerk, eine Landkarte, durchzogen von pulsierenden Adern, ein harmonisches Ineinandergleiten an- und abfahrender
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