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Der Lavagaenger

Titel: Der Lavagaenger
Autoren: Reinhard Stoeckel
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Erdbraun der Felder, das ins Ocker verblasste Gras der Wiesen, das Nebelgrau, schwarz durchzogen von Geäst. Auch ein Gesicht, immer wieder dasselbe: das eigene Gesicht, gespiegelt im trüben Glas, mal deutlich, mal unscharf. Je nach Lichteinfall mal mehr Selbst, mal mehr Welt. Und mal vorbeifliegende Fetzen von Erinnerungen:der lachende Mund eines Mädchens. Eine Tüte mit Himbeerbonbons. Kleine offene Waggons voller Kinder. Ein Windstoß reißt seine rote Schaffnermütze davon. Ein schwarzer Tunnel verschlingt Mütze, Bonbonpapier und Mund.
    Helder zuckte unwillkürlich zurück, als ein großer schwarzer Vogel dicht am Fenster vorüberschoss. Er zog eine Zeitung hervor, las und vergaß im selben Moment, was er gelesen hatte. Man musste sich das auch nicht merken, man würde es am nächsten Tag wieder lesen, und am übernächsten auch. Die Namen wechselten, manchmal auch die Orte, doch das, was geschah, geschah immer wieder, nur anderen Menschen, an anderen Orten.
    Helder leistete sich einen Kaffee. Das vom Kunststoffbecher aromatisierte Getränk schlürfend, versank er einen Augenblick in der Betrachtung der Ohrmuschel einer jungen Frau. Sie saß schräg gegenüber, und ihm fiel ein, dass Susanne einmal das Ruckeln und Stoßen der Gleise erotisch genannt hatte. Damals hatte er mit seinem Dienstvierkant die Abteiltür verschlossen. Doch als Susanne gerade auf seinem Schoß Platz genommen hatte, klopfte es energisch an die Tür. Der Schaffner verlangte nach den Fahrkarten. Helder war damals noch nicht lange bei der Bahn und leichtfertig der Meinung gewesen, Susanne ohne Weiteres auf seinen Freifahrtschein mitnehmen zu können. Der Kollege wies ihn streng zurecht, dann gab er ihm aber zu verstehen, ein Auge zudrücken zu wollen. Dies wiederum ging Helder, besonders in Susannes Gegenwart, gegen die Ehre, und er bestand darauf, für seine Begleiterin eine Fahrkarte nachzulösen. Einschließlich Nachlösegebühr, versteht sich!
    Heute waren die Gleise weitgehend erneuert und die Züge besser gefedert. Da ruckelte nichts mehr, und zu Hause warnte Susanne bei einschlägigen Gelegenheiten: Vorsicht, der Schaffner!
    Helder enthielt sich solch unnützer Phantasien und wandte sich seinem Taschenfahrplan zu, gespannt, ob der Zug seine Haltepunkte fahrplanmäßig erreichen würde. Na, also: Der Zug fuhr pünktlich 10 Uhr 38 im Hamburger Hauptbahnhof ein.
    Helder hatte darauf verzichtet, mit seinen Anverwandten zu telefonieren. Er würde sie beim Anwalt früh genug wiedersehen, um ihre Fragen nach Frau und Arbeit mit der dreisten Lüge zu beantworten: Ja, denkt euch, ich bin befördert worden, beaufsichtige jetzt einen General.
    Komische Dienstgrade ham die bei deiner Bahn!
    Und Susi, Junge?
    Susanne, ach die …
    Und ihrerseits würden sie säuseln:
    Also, wir ham ja den Opa immer sehr bewundert …
    Und geliebt.
    Dir, Mutter, dachte Helder, würde ich das sogar glauben.
    Für den Rest der Familie aber war der Lavagänger wahlweise Inbegriff für Verantwortungslosigkeit oder Verrücktheit.
    Hat irgendwer auf dieser Welt, so pflegte Helders Vater zu fragen, wobei er seine Daumen hinter die Hosenträger hakte und der Wirkung halber seinen Satzanfang wiederholte, hat irgendwer auf dieser Welt irgendeinen Nutzen davon, wenn ein Mensch in Honolulu über Lavafelder springt?
    Als ob es in Honolulu Lavafelder gäbe. Aber es ging dem Vater ja auch nicht um geographische Genauigkeit, obwohl man das von einem Eisenbahner erwarten konnte. Honolulu, das war irgendwo weit weg, der fernste Ort, das andere Ende der Welt. Was dort geschah, brauchte niemanden zu interessieren, war ohne Bedeutung, jedenfalls für die Familie, zumal es dorthin keine Zugverbindung gab.
    Vorzugsweise hatte der Vater seinen rhetorischen Eisenbesen dazu eingesetzt, Einwände jedweder Art gegen die eigene Meinung nicht nur vom Tisch, sondern gleich ganz aus der Wohnung zu fegen. Ich, sagte er und ließ die Hosenträger gegen den schmalen, aber vorgereckten Brustkorb knallen, stehe schließlich den ganzen Tag hinter dem Schalter. Das hieß, man möge ihn nach einem anstrengenden Arbeitstag mit lästigen Anfragen oder Debatten verschonen.
    Die Arbeit, mit der Bertram Helder sich das Recht auf häuslichen Frieden erwarb, bestand darin, hinter dem Fahrkartenschalter des Cottbuser Bahnhofs Knöpfe und Hebel einer großen Maschine so geschickt zu bedienen, dass das Ungetüm mit lautem Ächzen und Rattern am Ende eine Fahrkarte ausspie. Nicht irgendeine Fahrkarte, sondern
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