Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Der Lavagaenger

Titel: Der Lavagaenger
Autoren: Reinhard Stoeckel
Vom Netzwerk:
Orangen. Alles wurde betastet, berochen und auf dem Tisch ausgebreitet. Dann las die Großmutter vor, was auf einem demPaket beigegebenen Zettel stand. Mutter und Tante meldeten abwechselnd die Anwesenheit einer Strumpfhose (für das Röschen) oder einer Schachtel Zigaretten (für Bertram). Die Großmutter versah dann den Zettel mit einem Häkchen, wofür sie einen kleinen stummeligen Kopierstift immer wieder mit der Zunge anfeuchtete, so dass sie nach dem letzten Päckchen Tortenguss blauzüngig fragte, ob Mutter oder Tante etwas Ungelistetes entdeckt hätte. Das Ausbleiben einer solchen Überraschung, die vom Paketeinpacker unprotokolliert geblieben war, wurde jedes Mal mit einem kleinen Seufzer der Enttäuschung quittiert.
    Die werden da auch nicht noch was reinlegen, grummelte Tante Erdmuthe, womit sie die Zöllner meinte, deren Arbeitsspuren, soweit ersichtlich, die Großmutter abschließend der Häkchenliste hinzunotierte. Am Ende wurde alles, bis auf die Schokolade (für Henri), die Orangen und den Kaffee, wieder eingepackt, um dieselbe Prozedur mit demselben Paket noch zwei Sonntage lang wiederholen zu können.
    Später, als Henri sich, dem Beispiel des Vaters folgend, diesen Sonntagsbesuchen entzog und hinter vorgeblichen Hausaufgabenbergen versteckte, konnte er nicht nur eine Großtante von einer Hexe unterscheiden, sondern hatte auch erfahren, dass der Großvater kurz nach dem zwölften Geburtstag seiner Tochter nicht nur das Land, sondern gleich auch den Kontinent verlassen hatte. Später habe man eine letzte Nachricht von ihm aus Honolulu bekommen.
Lieber
, so soll er geschrieben haben,
laufe ich für den Rest meines Lebens über glühende Lava, als jemals in dieses Land zurückzukehren.
    Mit
diesem Land
hatte er das Land gemeint, in dem die Helders seit der Eröffnung der Eisenbahnstrecke von Cottbus nach Berlin im Jahr 1866 Dienst als Eisenbahner taten.
    Ein Verhalten, so Vater Bertram in seiner unter Alkoholeinwirkung etwas drastischen Art, als hätte einer in die Stube geschissen und sagte dann: Leute, bei euch stinkt es.
    Nun also, nachdem Helder diesen Großvater längst vergessen glaubte, war er ihm nicht nur als Tagtraum erschienen, sondern Hans Kaspar Brügg wollte ihm sogar etwas vererben. Helder dachte in einer infantilen Anwandlung an einen Seeräuberschatz oder die Kriegskasse eines japanischen Schiffes.
     
    Keiner aus Helders Familie war da, als er die Kanzlei des Anwalts betrat. Es werde auch niemand mehr kommen, sagte ein lächelndes Fräulein. Ja, wiederholte gleich darauf der Anwalt an Helder gewandt, Sie sind der einzige Erbe.
    Er öffnete ein verschnürtes Paket und tat dabei sehr feierlich, feierlich wie seinerzeit Helders Großmutter. Und tatsächlich sagte auch der Nachlassverwalter: Ich habe ja vorher schon mal reingeschaut. Aus Sicherheitsgründen, verstehen Sie. Aber Gefahr besteht da wohl nicht. Mit diesen Worten zog er ein altes, an den Sohlen leicht verschmortes Paar Schuhe aus dem Karton.
    Helder sah abwechselnd auf die Schuhe und auf den Anwalt.
    Der grinste nur. Glauben Sie mir, ich habe hier schon verblüfftere Gesichter gesehen.
    Sonst nichts?
    Nein, nichts.
    Nicht mal ein Brief?
    Nein, auch kein Brief.
    Später saß Helder in einem kleinen ranzigen Hotel auf dem Bett und besah sich die Schuhe genauer. Derbes, über viele Jahre, wie es schien, von Schweiß, Wasser und Hitze ein zweites Mal gegerbtes Leder von gelblicher Farbe. Es war – vielleicht von scharfkantigen Steinen – zerschabt, doch solide mit den Sohlen vernäht. Dunkle Stellen überall,Brandspuren, vermutete Helder. Keine Beschläge, dafür ein seltsames Muster in Knöchelhöhe auf beiden Schäften.
    Was, so fragte sich Helder, soll ich mit den alten Tretern? Was hat sich dieser Großvater, den ich mein Lebtag nicht gesehen habe, dabei gedacht. Woher hat er überhaupt von meiner Existenz gewusst, wenn er vor mehr als fünfzig Jahren diesen Teil der Welt verlassen hat. Tatsächlich hatte niemand in der Familie einen weiteren Kontakt nach seinem Verschwinden auch nur angedeutet.
    Hawaii. Die bierlose Insel aus dem bierseligen Schunkellied. Dazu ein bisschen Hemingway. Oder gehörte der eher nach Kuba? Egal, dachte Helder. Männer in bunten Hemden hängen in Bars herum. Eiswürfel fallen klirrend in Gläser, statt Bier Whisky und Rum. Dann etwas Südseeromantik: Braunhäutige Schönheiten schwingen ihre Hüften heran, in den Händen Blumengirlanden. Perlweißlächelndes Paradies. Vulkane fanden sich in
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher