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Der Lavagaenger

Titel: Der Lavagaenger
Autoren: Reinhard Stoeckel
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Helders Vorstellung nicht. Sein alter Schulatlas nannte ihm ihre Namen: Mauna Kea, Kilauea …
    In der Nacht schlugen Flammen aus den Sohlen, und ein mit Gluträndern gezeichneter Schatten huschte durch Helders Träume.
    Am nächsten Morgen standen die Schuhe unberührt neben seinem Bett. Helder ließ sie dort stehen, packte seine Sachen und verließ das Hotel mit dem beruhigenden Gefühl, eine große Unannehmlichkeit dort zurückzulassen.
     
    Auf der Rückfahrt stieg er in den falschen Zug und machte ungewollt einen Umweg über Krahnsdorf-Brandt. Dorthin, zu Großmutter und Tante, waren die Helders Mitte der sechziger Jahre auf Drängen der Mutter gezogen. Inzwischen lebte die Großmutter nicht mehr und die Tante in einem Heim. Auf eigenen Wunsch, wie die Eltern betonten. Ausgangspunkt dieses Wunsches war wohl einStreit gewesen, der, wie Helder sich erinnerte, im Haus am Bahndamm geschwelt hatte, um manchmal heftig aufzulodern. Es ging darin um einen ER, hinter dem sich, nach Henris heutiger Vermutung, der Großvater verbarg.
    Da Helder in Krahnsdorf-Brandt mehr als zwei Stunden Aufenthalt hatte, stand er unentschlossen am Bahnhofsausgang. Sollte er die Eltern besuchen?
    Am Imbisswagen ließ er sich einen Kaffee geben. Der Vietnamese stellte ihm den Becher hin und fragte: Bist du nicht Henri?
    Helder schüttelte den Kopf. Er hatte keine Lust auf Gespräche über Gestern.
    ’tschuldigung, sagte der Vietnamese, Miich, Sucker?
    Helder schüttelte wieder den Kopf, nahm seinen Becher und ging. Vielleicht sollte er doch zu den Eltern? Es war ihm unangenehm, so unerwartet bei ihnen aufzutauchen. Man könnte, dachte Helder, ja mal über die Erbschaftsangelegenheit reden. Er kaufte sich beim Vietnamesen einen Taschenwärmer, eine kleine Flasche Mut, und machte sich auf den Weg.
     
    Kann mir einer erklären, wieso der Opa mich mit einem Paar ausgetretener Schuhe beglückt?
    Vater Bertram sah seine Frau an: Da siehst es wieder, Rosa, bei dem war ’ne Schraube locker.
    Die Mutter seufzte, holte eine Schachtel Pralinen und zog die Folie ab. Dann schob sie ihre Brille zurecht und las von der Packung: Trüffel mit Rum, Nusssplitter mit Nougat, feines Marzipan in Zartbitter …
    Wieso ist der überhaupt weg hier?, fragte Helder.
    Die Mutter seufzte nur wieder. Es war eben keine leichte Zeit damals. Dann hatte sie plötzlich eine Menge in der Küche zu tun.
    Was weiß ich, was der in Honolulu wollte, sagte der Vater und fuhr sich mit der Hand durch das schüttere Haar.Musst die Mutti immer dran erinnern?! Weißer oder Brauner?
    Brauner. Übrigens, Honolulu ist eine Stadt …
    Der Vater fand Helders geographische Belehrungen – von wegen in Honolulu über Lavafelder springen – erbsenzählerisch.
    Nicht ohne Erleichterung nickte Helder, als der Vater das Thema wechselte: Weißt du noch? Deine erste Fahrkarte?
    Bertram Helder war noch immer stolz darauf, dass er es gewesen war, der sie seinem Sohn ausgehändigt hatte. Was für ein erhebender Moment im Leben eines Fahrkartenverkäufers. Ein Höhepunkt, dicht gefolgt – oder gar übertroffen – vom Zwischenhalt des ersten deutschen Weltraumreisenden auf dem Bahnhof Krahnsdorf-Brandt.
    Denk dir, Junge, der hat darauf bestanden, eine Fahrkarte zu lösen. Hätte der doch erstens gar nicht nötig gehabt und zweitens gar nicht gebraucht, der hatte ja sein Billett. Aber er wollte unbedingt eine haben, weil wir noch diesen alten Automaten hatten.
    Für meinen Enkel, hat er gesagt. Und dann gefragt: Wissen Sie, was ich von oben gesehen habe?
    Die Erde, sage ich.
    Ja, sagt er, und eine kleine Bahnstation.
    Da bekommt man doch erst einmal einen kleinen Schreck, setzte Helder die altbekannte Geschichte des Vaters fort, selbst wenn man ein gutes Gewissen hat.
    Richtig, sagte der Vater. Dann aber hat der Kosmonaut gelacht. Und ich habe auch gelacht. – Aber, schloss wie immer der Vater, manchmal stellte ich mir vor, man könnte aus dem Raumschiff wirklich Krahnsdorf-Brandt erkennen. Und dann, dann habe ich sogar im Sommer den obersten Knopf meiner Uniformjacke geschlossen. So muss man leben, Junge, als ob einer zusieht.
    Ja, sagte Helder, ich weiß: Einer sieht immer zu.
    Der Vater goss ihm einen Kognak ein. Dann goss er sich selber einen Kognak ein. Beide tranken und schwiegen.
    Und Susanne?
    Helder zuckte die Schultern. Viel Arbeit.
    Ja, ja, viel Arbeit. Na, besser als keine.
    Ja, ja, sagte Helder, besser als keine.
    Er dachte an kleine bedruckte Papptäfelchen. An Zugfahrten dachte er,
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