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Der Lavagaenger

Titel: Der Lavagaenger
Autoren: Reinhard Stoeckel
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an vorbeiziehende Landschaften hinter regennassen Scheiben. Rostige Signalmasten, auffliegende Krähenschwärme und einen kotbeschmierten Zeitungsfetzen zwischen den Gleisen. Ein lachendes Gesicht im Raumanzug. Beschissene Helden. Ein Windstoß und weg.
    Den Kopf aus dem Fenster gezwängt, gegen den Wind anschreien, der in die Kehle drückt. Beißender Rauch in den Augen. Das Land dehnt und streckt sich, verschwimmt im tränenden Blick. Eine graugrün flatternde Fahne. Auf Drähten reisende Wolken, Notenlinien auf blassblauem Papier. Ratternder Rhythmus, de-tmm de-tmm. Das Tuten vorm Tunnel.
    Schwarzer Rauchgeruch. Dunkelheit. Keine Furcht, nur auf Überraschungen gefasst sein. Gegenüber Maika, die Frechste aus der Klasse, von der man sagt, dass sie schon küsst. Dann die kitzelnde Hand am Bauch. Himbeerduft in der Nähe. Der bonbonklebrige Kuss verrutscht auf das Ohr. Haltung bewahren, nicht das huschende Kribbeln verraten. Den warmen Freudenstrahl, der alles durchstößt, bloß nicht benennen mit dem Wort Glück. Sondern – es könnte ja einer zusehen und das Dunkel des Tunnels durchschauen – männliche Haltung ausrufen: Igitt, oh igitt! Der Finger in der Seifenblase. Zerplatzte Kinderliebe.
    Noch einen?
    Helder nickte. Die Zeit war etwas, was man gut wegtrinken konnte. Ein Drücken im Hals, und der Schnaps ätzt es weg. Hatte irgendjemand von ihm jemals eine Fahrkarte bekommen?
    Fahrpläne ja, sauber berechnete Fahrzeiten, Ankünfte, Abfahrten, Aufenthaltszeiten. Die fein ausgeklügelte Symbolik: fährt nur an Sonn- und Feiertagen. Speisewagen, Liegewagen, Schlafwagen. Hält nicht auf allen Unterwegsbahnhöfen. Nur werktags, kein Gepäckwagen, Fahrradmitnahme möglich, nur 2. Klasse … Ein Kosmos von Möglichkeiten durch kleine schwarze Zeichen abgedeckt. Was war dagegen schon eine Fahrkarte?
    Es war, das wusste er plötzlich, es war die Entscheidung. Selbst wenn man einfach nur so ins Blaue hinein fuhr, man musste seine Wahl getroffen haben. Und bei Nichtantritt der Fahrt?
    Fahrgeldrückerstattung war möglich, sicher. Doch auch das – eine Fahrt nicht anzutreten –, auch das war eine Entscheidung.
    Helder aber hatte sein Lebtag in der Unentschiedenheit verharrt. Er hockte auf einem Stapel von Kursbüchern, statt jemals eine Reise angetreten zu haben.
    Und, fragte der Vater, ein Paar Schuhe hat er dir vererbt. Sonst nischt?
    Sonst nichts.
    War ja klar. Und wo hast du die Scharteken?
    Welche Scharteken?
    Na, seine Treter.
    Dort gelassen.
    Wie, dort gelassen?
    Vergessen. Im Hotel.
    Na ja, war ja sicher nicht mal deine Größe.
    Tja, ich muss dann wieder …
    Na, wirst doch wohl bleiben! Wenn du schon mal Urlaub hast.
     
    Helder blieb. Er legte sich in seinem alten Zimmer auf die Liege unter der bleckenden Zunge eines Rolling-Stones-Plakats:
    Hey! Think the time is right for a palace revolution
    But where I live the game to play is compromise solution
    Well, then what can a poor boy do?
    Und darunter, vor Jahren von einem Kommilitonen abgewandelt, die fehlende vierte Liedzeile:
    Except to work as a railway man …
    Helder kramte in seinem Nachttisch und fand dort eine angeknautschte Zigarettenschachtel mit einer letzten bröseligen Zigarette ohne Filter. Er sog den Rauch tief ein, dass er in der Lunge kratzte.
    What can a poor boy do?
    Bei diesem Mistwetter. Und mit Mitte vierzig.
    Er trat ans Regal und schob das Modell eines Eisenbahnzuges hin und her. Ein kleines Metallschild an der Lok teilte mit: Cottbus–Berlin, 13. September 1866.
    Ein Geschenk des Vaters. Der hatte seinerzeit erläutert: Der erste Zug vom Cottbuser Bahnhof hätte sich pünktlich um 7 Uhr 24 in Bewegung gesetzt. Ohne großen Bahnhof, kalauerte er dann, haha. Die Eröffnung hat eigentlich später sein sollen, so richtig feierlich. Aber die Preußen hatten gerade Krieg mit den Österreichern, und die von der Bahn dachten sich: Na, da können wir doch vielleicht auch noch ein paar Soldaten chauffieren. Also, nix wie hin nach Berlin. Ja, man muss schon sehen, wo man bleibt. Also, mein Junge, in diesem Sinne: alles Gute zum Lehrabschluss!
    Des Vaters Prämien. Wo ist denn …? – Helder durchsuchte den schmalen Buchbestand: »Meyers Lexikon« in einem Band, »Alfons Zitterbacke«, »Weltall – Erde – Mensch«, »Kursbuch der Deutschen Reichsbahn – Internationaler Verkehr/Jahresfahrplan 1989/90« … Wo war denn nur Kapitän Cook abgeblieben?
    Draußen von der Treppe rief die Mutter: Henri, rauchst du etwa wieder?
    Nein, nein. Helder
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