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Die Geschichte der Anna Waser (German Edition)

Die Geschichte der Anna Waser (German Edition)

Titel: Die Geschichte der Anna Waser (German Edition)
Autoren: Maria Waser
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1. Bei Josephus Werner
    Es war nach einem maßleidigen Dauerregen, als eines Sonntagabends zu Mitte Mai plötzlich die Sonne herfürbrach. Ganz heimlich geschah dies, während die guten Berner im Abendgottesdienst saßen, und erst, da sie das Münster verließen — etwas griesgrämig in den schwarzen Kirchengewändern — gewahrten sie mit Staunen, wie die Pfützen auf der Plattform neben der Kirche gelbrot erglänzten und allbereits ein mächtig Stück Himmelblau zwischen den abendgoldenen Türmen hing. Die breitschwebenden Schwalben aber von der Ringmauer, die all die Zeit bäuchlings über die Aare gestreift, segelten nun ganz hoch in der sauberen Bläue und so fern, daß man ihnen kaum nachblicken konnte. Die Alten kriegten den Schlucker unter den engen Halskrausen, wann sie’s taten, und die Jungen ein seltsam Drängen in der Herzgegend, solches man nicht anders denn mit einem tiefen Seufzer quittieren konnte. Es war aber keine Täuschung und falsche Vorspiegelung mit dem Himmelblau und Abendgold und Hochflug der Schwälbchen; über Nacht tat sich der Himmel gewaltig auf, sog die überflüssige Nässe ein und vertrieb sie mit leichten Winden, sodaß der Montagmorgen mit allem Überschwang einer frischgewaschenen Maienpracht heraufkam. So freudig glänzten die gedrängten Zinnen, und die Leute traten vergnügt unter den niedrigen Laubengängen hervor in die breiten Gassen, wo man die Sonne spürte. Aber am herrlichsten ging der neue Tag über die Gärten am morgendlichen Rande der Stadt, die sich von den hoch über der Aare gelegenen Häusern an der Junkerngasse in breiten Stufen gegen den Fluß hinabzogen. Dort machten die kleinen Vögel ein lustiges Wesen mit Jubel und Sonnenflug, und die Menschen taten es ihnen nach, öffneten allenthalben die Fenster und ließen Allongen 1 und Haubenbänder im Frühwind flattern oder auch in einem ungesehenen Winkel sich die Sonne auf den perückenlosen Schädel brennen. Nur eines der enggeschmiegten Häuser unweit der Plattform schien nicht mitzumachen. Die Flügel am kleinen Fenster des Turmstübchens standen zwar offen und bewegten sich mit hellem Blitzen der runden Scheibchen leise hin und her, aber die ganze Fensterreihe des ersten Stockes war blind und tot; denn dort lag hinter modisch großscheibigen Fenstern Josephus Werners kleine Malschule, und der Meister hatte vorsichtig die dünnen Verhänge vorziehen lassen, auf daß kein fürwitzig Sonnengeflimmer seine Lehrjünger am emsigen Werke störe. Nur an der einen Stelle, wo die Verhänge nicht ganz schlossen, vermochte ein dünner Strahl einzudringen. Er legte eine schmale Bahn durch das wohlräumige Gemach und über die runden Köpfe der Malschüler. Der schöne Giulio, so zunächst dem Fenster saß, betrachtete angelegentlich den hellen Eindringling, der aufreizend, ein langer güldener Zeiger, nach der Tür wies, die sich eben hinter dem Meister geschlossen hatte. Dann warf er plötzlich seine Reißkohle von sich, mitten ins Zimmer hinein, daß sie bröckelnd aus dem messingenen Halter sprang.
    „ Commilitones, “ rief er mit etwas wie Spott in der warmen verwelschten Stimme, „nehmt’s ad notam: Anno Domini 1692, am Montag nach Exaudi 2 , sah man zu Bern die Sonne. Wohl verstanden: keine weiße Trübsal hinter Wolken, eine rechte gelbe Sonne; aber in des Maestro Josephus Werner löblicher Kunstakademie saßen die Kunstjünger hinter gezogenen Verhängen und kopierten gipsene Modelle! Per Bacco 3 , wer’s aushält!“
    Die andern wandten sich belustigt dem Italiener zu; aber Lukas Stark, der langaufgeschossene Primus der Klasse, flackerte ihn herrisch an aus seinem hageren Jungengesicht: „Silentium, Welsch,“ rief er streng, „nun soll Stoffel reden; er ist uns die Explikation schuldig, aus was Ursach das Turmstübchen heut morgen also lieblich hergerichtet wird und ob wir am End gar einen patrizischen Hausgenossen gewärtigen müssen!“
    Aber des Meisters Sohn schüttelte bestimmt die rote Mähne: „Ich weiß nichts, Lux, der Vater hat auch mir nichts verraten!“
    „Wer’s glaubt!“ stichelte Stark weiter. „Und ich sage, daß du’s weißt!“
    Da erhob Christoph sein offenes Gesicht und sperrte die hellbraunen Augen weit auf: „Nein, sage ich,“ rief er erbost, „nobis, hörst du? Nobis quant!“ und preßte beteuernd die rosenrote Faust aufs Herz. Enttäuscht wandten sich die andern wieder ihrer Arbeit zu. Da war also nichts zu erfahren. Christoph sagte nie eine Unwahrheit, und wenn er gar
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