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Die Geschichte der Anna Waser (German Edition)

Die Geschichte der Anna Waser (German Edition)

Titel: Die Geschichte der Anna Waser (German Edition)
Autoren: Maria Waser
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Sätze in absonderlich schöner und blumiger Rundheit quollen; denn von der Einbildungskraft ging sein lebhafter Geist zur Allegorie über und betrat damit jenen Garten, wo es weder für des Meisters Gedanken noch Pinsel jemals eine Grenze gab. So kam er denn auch mit seinen sinnreichen Ausführungen nicht eher zu Ende, als bis Frau Susanna Werner in ihrer stattlichen Gemütlichkeit erschien und die kleine Gesellschaft zu Tisch bat, mit der Bemerkung, den weitgereisten Gästen möcht ein anständiges Abendbrot wohl so willkommen sein wie die schönsten Reden, solche zwar das Gehirn zu erhitzen, nicht aber den Magen zu wärmen imstande seien.
    *
    Die Sonne war schon untergegangen, als die Gesellschaft sich vom Mahle erhob, das, teils der köstlich aufgetragenen Speisen, teils der lehrreichen und unterhaltsamen Reden wegen, so die beiden Herren miteinander geführt, sich länger als gewöhnlich ausgesponnen hatte. Während Frau Werner den Hausgeschäften nachging, begaben sich die andern, der Stimme einer Amsel folgend und einem verheißungsvollen rötlichen Scheine, in den dem Eßzimmer anliegenden Garten.
    Ein großes Leuchten, das von der Alpenkette herüberkam und einen unirdischen Glanz über den stillen Abend legte, empfing sie draußen. Sibylla, die während des Essens mit wenig Worten und vielen Blicken um die Freundschaft der neuen Hausgenossin geworben hatte, nahm Anna bei der Hand und zog sie nach dem Mäuerchen, das den kleinen Garten, der gleichsam die erste geräumige Stufe der zum Fluß niedersteigenden Gartentreppe bildete, abschloß. Jetzt erst überblickte Anna den ganzen Wunderbau dieser Landschaft, die sich vom tiefen Aarebett in vielen reichbewegten Horizonten urmächtig bis in den leuchtenden Himmel hineintürmte. Aufatmend drückte sie die Hand des blonden Mädchens, während ihr über dem herzbedrängenden Anblick ein fast seltsames Schimmern in die Augen kam.
    „Seid Ihr traurig?“ fragte Sibylla besorgt und zog Anna neben sich auf die Mauer unter das Dach eines breitästigen Holunderbaumes. Aber diese schüttelte lächelnd den Kopf: „Nein, nein, es ist nur so über alles Sagen schön!“
    Nun trat auch der Amtmann an die Mauer. Er stand hoch aufgerichtet mit fest verschränkten Armen; aber in dem hagern Gesicht zuckte es eigen, und die blassen Augen glänzten. „Das ist ein groß und selten Schauspiel, wie ich mich dessen kaum erinnere,“ wandte er sich an Herrn Werner, der ihm gefolgt war. „Es ist nicht anders, als ob unser schönes Land in diesem Bild sein Meisterstück geschaffen hätte. Jedesmal, und auch gestern wieder, wann ich mich, aus dem freien, flachen Lande herkommend, Eurer hochgemuten Stadt nähere, muß ich mit neuem Staunen betrachten, wie sich nach und nach die Landschaften zusammenziehen und mit einem unbegreiflichen Aufwand von Kräften zu diesem wohlgefügten und ungeheuren Gemälde aufbauen.“
    „Es freut mich über die Maßen,“ nahm Herr Werner nicht ohne Bewegung das Wort, „von einem Bürger des edeln und herrlichen Zürich in dergleichen Worten mein liebes Bern loben zu hören. In der Tat, ich muß selber gestehen, wann etwelchem die Schuld zu geben ist, daß ich mich aus schönen kunstreichen und kunstpflegenden äußeren Orten nach meiner kargen und kunstunfreundlichen Vaterstadt zurückbegab, allwo ich nur in Bescheidenheit meine Tage vollbringen kann, so ist es dieser Anblick, über den mich selbst alle Schönheit Italiens nicht zu getrösten vermochte.“
    Anna schaute immer noch mit großen Augen in das Glühen hinein, das nach und nach blasser zu werden begann. „Die Berge sind anders als bei uns,“ sagte sie dann mit einer Stimme, die weither zu kommen schien. „Bei uns ist’s wie ein zartes weißschimmerndes Spitzengewebe am Rande des Himmels ausgespannt; aber hier ist es, als ob sich die hohen Häupter all um jenen breiten und hochgebauten Gipfel sammelten, der mir vor allen andern herrlich und hoch zu sein scheint.“
    „Ich weiß, wovon Ihr redet,“ entgegnete Herr Werner mit einem Lächeln, „und Ihr werdet staunen, liebe Waserin, wann ich Euch den Namen dieses schönsten Berges nenne; denn er ist absonderlich und könnte manchen zum Nachdenken anmachen. Der Berg heißt hierzulande die Jungfrau, und zwar von alters her.“
    „Es setzt dies,“ erwiderte der Amtmann, „die Galanterie Eurer Vorfahren in kein schlechtes Licht. Wißt Ihr keine Explikation für diese absonderliche Benennung?“ Doch als Herr Werner von einer alten Sage
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