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Die Geschichte der Anna Waser (German Edition)

Die Geschichte der Anna Waser (German Edition)

Titel: Die Geschichte der Anna Waser (German Edition)
Autoren: Maria Waser
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berichten wollte, schüttelte er den Kopf:
    „Mir scheint, mit Verlaub, diese Erklärung unbefriedigend, da die Sage wohl aus dem Namen, nicht aber dieser aus jener abgeleitet ist. Der Name ist älter und muß irgendwo sich aus dem Anblick selbst erklären lassen, wie denn auch der Name des wilden und schier fürchterlichen Schreckhorns oder der Spitzen Nadel 12 eines einleuchtenden Grundes nicht entbehrt.“
    ,,Da wird uns,“ meinte der andere gutgelaunt, „unsere galante Jungmannschaft am besten Erläuterung geben können!“ Und er rief die drei Jünglinge herbei, die sich in der andern Ecke des Gartens damit belustigten, die ab und zu vorbeisurrenden Maikäfer einzufangen, um sie nach kurzer, nicht eben milder Haft wieder in Freiheit zu setzen. Herr Werner legte ihnen den Fall nicht ohne Schalkheit vor und freute sich im stillen dieses umgekehrten Parisurteils.
    „Oh, das ist klar, Maestro,“ rief Giulio begeistert; „ist sie nicht weißer und schöner als alle andern Berge und scheinen die weichgebreiteten Schneefelder nicht eben jetzt in diesem verblassenden Scheine sich lieblich zu schwellen wie der Busen einer schönen Frau?“
    „Nein!“ rief Christoph erregt dazwischen, während Sibylla ihr errötendes Gesicht gegen eine der noch grünen Dolden des Holunderbaumes preßte und Anna still mit zusammengezogenen Brauen in die Ferne blickte. „Nein, weil sie stolz ist und kühl und jeglichem unerreichbar, deshalb trägt sie diesen herrlichen Namen!“
    „Oder vielleicht,“ führte mit abwägender Zunge Lukas das Wort weiter, „weilen sie sich so trefflich ins beste Licht zu setzen und glänzend hervorzutun weiß. Seht nur, wie geschickt sie mit hochmütig gestrecktem Haupte den letzten Strahl aufzusaugen und den stillen Eiger mit Schatten zu bedecken versteht!“ Ein schneller lauernder Blick ging zu Anna hinüber, den sie mit überraschten und mutigen Augen auffing:
    „Ihr irrt Euch, Herr Stark! Nicht deshalb, weil sie stolz und eigennützig ist — denn ich sehe nicht ein, warum unter solcher Ansehung der Berg nicht eher den Namen irgendeines Mannes oder ehrgierigen Jünglings tragen sollte — weil sie unablässig ihr Haupt dem Himmel zuwendet und unbekümmert um Eiger und Schreckhorn in die Anschauung des Ewigen sich versenkt, trägt sie diesen Namen, in keinem andern Sinn, als ihn von je alle Priesterinnen und Himmelsbräute getragen.“
    „ Optime, optime! “ rief Herr Werner entzückt und legte seine Hand väterlich auf Annas Schulter, während Lukas zornig einen Maikäfer mit zerpflückten Flügeln nach dem untern Garten warf. „In dieser Erklärung läßt sich der schöne Name auch recht als ein Symbolum und Mahnzeichen erachten, nämlich: daß es nur einer reinen Jungfrau, solche in die Anschauung des Höchsten ihr Ziel gesetzt hat, gelingen wird, zu dieser herrlichen Höhe und Klarheit sich hinaufzuringen, wie denn auch jener andere Berg dort, der zwar in schöner Völligkeit hingebreitet scheint, sich aber, als ob er zu fest in der Erde wurzelte, nur zu geringerer und flacher Höhe hat erheben können, den Namen der Frau trägt.“ Damit ließ er den gepflegten, langnagligen Zeigefinger in westlicher Richtung dem Horizont nachgleiten und führte die Blicke der andern auf den neben der dunkeln Pyramide des Niesen hingelagerten weißen Berg.
    Da wuchs mit zarter Färbung das zweite Abendglühen über die Alpen herauf, das die Gesellschaft aufs neue mit Entzücken betrachtete, bis der letzte Schimmer vergangen und die ganze Kette in ein tötendes Violett versunken war. Von der Aare her zogen weißliche Flöre, mit dem Wohlgeruch der blühenden Welt erfüllt, leise über die Gartenstufen empor. Die Amsel brach plötzlich ihr Lied ab und eilte in hastigem Tiefflug nach dem Flußufer hinunter, aus dem grünlichen Himmel aber drangen da und dort langsam die ersten blassen Sternchen hervor.
    Da erschien unter der Eßzimmertüre Frau Werner und rief die Gesellschaft mit freundlichen Worten herein. Es sei von dem langen Regen her noch zuviel Feuchtigkeit im Boden, als daß man ungestraft nächtlicherweise im Garten weilen dürfte. Leicht könnte eines von den schlimmen Dünsten einen Schaden davontragen. Dann aber sei es für ihr neues Töchterlein wohl auch an der Zeit, nach so vielen Eindrücken eines langen Tages sich zur Ruhe zu legen.
    Man folgte der Aufforderung der Hausfrau. Anna verabschiedete sich und stieg, von Frau Werner und Sibylla begleitet, in ihr Turmstübchen; die Jünglinge
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