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Die Geschichte der Anna Waser (German Edition)

Die Geschichte der Anna Waser (German Edition)

Titel: Die Geschichte der Anna Waser (German Edition)
Autoren: Maria Waser
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Giulio Giuliani kein Meister werden!“
    Dann wandte er dem wenig reumütigen Italiener den Rücken und ging, als ob nichts geschehen wäre, ruhig prüfend von Staffelei zu Staffelei.
    Erstaunt blickten sich die Schüler an. Sie hatten nach Giulios dreister Rede einen andern Ausbruch erwartet; denn die heißen Worte lagen sonst locker in Herrn Werners feuriger Seele. Heute mußte er in besonderer Stimmung sein. Mit verstohlenen Blicken betrachteten sie ihren Lehrer, und nun sahen sie erst, daß er feiertäglich angetan war und daß, halb verborgen unter dem reichgestickten Kragen, die güldene Kette hervorblitzte, die — ein Geschenk des großen Königs — nur an besonderen Ehrentagen sich zeigen durfte.
    Indessen hatte der Meister seinen Rundgang durch die Klasse vollendet, hatte da und dort korrigierend eingegriffen, hatte durch lebhaftes Lob Lukas Stacks tiefliegende Augen zum Leuchten gebracht und durch nüchterne Kritik das gerade Gesicht seines Sohnes in Wallung versetzt, wobei die roten Wangen mit dem gelbroten Haar einen unerfreulichen Zweiklang abgaben. Dann stellte er sich breitspurig vor die Klasse hin, mit einem verheißenden Augenblinzeln, sodaß die Schüler erwartungsvoll zu ihm aufblickten. Herr Werner aber drehte mit leisem Schmunzeln sein spitzes Schnurrbärtchen: „Nun möchtet ihr wohl Auskunft von mir haben, für wen das Turmstübchen hergerichtet wird. Ich habe das Wundern lang schon an euch gespürt und an euern gestörten Arbeiten. Aber die Patientia, meine Herren Lehrjünger, ist eine fürtreffliche Göttin, der zu dienen man nicht früh genug lernen kann. Erstmalen will ich noch euern Scharfblick und Urteilsinnigkeit auf die Probe stellen.“
    Mit diesen Worten holte er aus der Kammer, die an das Atelier anschloß, ein kleines Gemälde heraus und stellte es vor der Klasse auf.
    „Was denket ihr von dieser Malerei und ihrem Urheber?“
    Die Schüler drängten sich um das Bild, das in heller und glücklicher Farbenmischung eine Flora zeigte, eine zartverhüllte weibliche Figur, die blumenstreuend durch eine an antikem Dekor reiche Landschaft hinschritt.
    „Ich denke, Maestro,“ rief Giulio lebhaft aus, „daß der Maler dieses holde Mädchen nicht nach Gips geschaffen!“ Aber Christoph schnitt seine Rede ab: „Das ist ja Eure Flora, Vater! Wie kommt sie aus dem Besitz des Zürcherherrn hierher?“
    Herr Werner schwieg lächelnd, während die übrigen Schüler sich in Lobesbezeugungen und Bewunderung ergingen, und betrachtete Lukas Stark, der, das scharfgeschnittene Kinn in die gestützte Rechte geschmiegt, mit aufmerksamen Blicken das Bild maß.
    „Es ist das Werk eines Kopisten, Meister,“ sagte er in scharfem, nüchternem Ton, „das ist nicht Eure Handschrift und sind nicht Eure Farben; Ihr hättet die Gestalt lebhafter vom Hintergrund unterschieden und ließet sie nicht also unbestimmt in der blauen Luft hängen.“
    Herr Werner lachte befriedigt: „Mein Lukas hat wieder einmal richtig getroffen; es ist eine Kopie meiner Flora. Was aber denkt ihr von dem Kopisten?“
    Christoph, dem abermals eine rote Welle ins Gesicht gestiegen war, suchte sein Ungeschick gutzumachen: „Ich denke, daß er ein großer Maler ist, da er Euer Werk also trefflich nachzuschaffen wußte.“ Und Giulio ergänzte: „Ich denke, daß er eine sehr feine Seele hat, so im Werke des andern zu lesen, ja, durch dieses hindurch zur Natur zu dringen weiß. Seine Augen haben nicht nur die Blumen Eurer Flora, Maestro, gesehen, sondern auch ihre lebendigen Vorbilder und deren Schönheit hundertmal genossen — und ich denke, daß er eine sehr zarte Hand hat.“
    „Eine Hand,“ warf Lukas mit spöttischem Lächeln ein, „der nichts fehlt denn die Meisterschaft.“
    Herr Werner aber fuhr munter fort: „Fürwahr, auch Ihr, Giulio, habt recht; es ist in der Tat eine zarte Hand, die dies geschaffen; denn sie gehört einer noch zarten Jungfrau, einem Mägdlein, ebendemselben, das heute noch als euer Mitschüler und Hausgenosse in das Turmstübchen einziehen wird.“
    Das schlug ein wie Hagel und Blitz. Einen Augenblick blieb alles still. Dann aber brachen die Fragen von allen Seiten los und umdrängten den lachenden Meister wie ein zudringlicher Bienenschwarm. Nur Lukas schwieg. Sein Gesicht verdüsterte sich, und die Zähne nagten an den trockenen Lippen des kleinen Mundes; dann grollte er: „So sind denn also unsere guten Zeiten vorüber, und wir könnten Staffelei und Malgeräte füglich einpacken: wo das
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