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Der Lavagaenger

Titel: Der Lavagaenger
Autoren: Reinhard Stoeckel
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zögern, fasste er mit Daumen und Zeigefinger Bertrams Haaransatz im Nacken und schob ihn schimpfend die Treppe hinauf: Weißt du,wen ich gerade getroffen habe? Deinen Lehrer. Und weißt du, was er gesagt hat …
    Bums. Da war die Wohnungstür zu. Und Willi erfuhr weder was Bertrams Lehrer gesagt hatte, noch was sein würde, wenn Deutschland den Krieg gewänne.
    Er wusste nicht einmal alles, was war, als Deutschland den Krieg verloren hatte.
    Nein, Willi schüttelte den Kopf, das Zahnrädchen trudelte vom Tisch. Willi bückte sich, wollte zufassen, doch die Finger versagten ihren Dienst. Er ließ es liegen.
    Nein, er hatte weder Bertrams Stiefvater, den Karwenzel, angezeigt, noch hatte er überhaupt von dem Polen gewusst. Erst als die Polizei gekommen war, Haus und Hof zu durchsuchen, da hatte er gehört, dass da einer im Schuppen gesessen haben soll. Doch da war der Vater schon weg gewesen. Weg, weg, weg …
    Nun, nach dem Brief seiner Mutter, fasste Willi einen Entschluss. Er wandte sich an den internationalen Suchdienst des Roten Kreuzes und fragte dort nach seinem Vater. Nach einem knappen Jahr bekam er eine Antwort: Hawaii.
    Er fand ihn tatsächlich auf Big Island. Er blickte in ein fremd gewordenes Gesicht unter einem grauen, aber noch vollen Haarschopf. Nur die dunklen Augen blickten ihn auf eine vertraute Weise forschend an. Sie wechselten nur wenige Worte.
    Uhrmacher bist du?
    Ja, bin ich.
    Und?
    Geht so.
    Hin und her ging dieses
geht so
. Am Ende wusste jeder ein paar Tatsachen aus dem Leben des anderen, aber kaum etwas über ihn selbst.
    Auch die Vorwürfe, die Willi sich aufgesammelt hatte in seinem Herzen, nahm er darin wieder mit.
    Sag mir nur, sagte Willi, hat dich damals überhaupt jemand verraten, oder bist du von allein weg?
    Hans Kaspar atmete tief und schüttelte den Kopf, was auf Willis Frage natürlich keine Antwort war.
    Willi wollte nicht so einfach gehen. Ihn hielt ein unklares Gefühl, vielleicht, dass der Vater ihm noch etwas schulde. Aber was, wusste er nicht.
    Da erbat er sich die Tigerschuhe, sagte: zur Erinnerung.
    Hans Kaspar zögerte, dann sagte er: Aber vorher putze ich sie dir.
    So saßen sie, während Hans Kaspar die Schuhe eincremte und bürstete, noch einmal zusammen auf einer Treppe.
    Hans Kaspar sagte: Übrigens, ich habe sie wiedergetroffen.
    Willi fragte, obwohl er sofort wusste, wer gemeint war: wen?
    Na, die Frau aus dem Zug in Konya, um derentwillen der Derwisch den Zug … Na, du weißt doch, die Sache mit dem Tiger.
    Ja, ich weiß.
    Hans Kaspar überreichte Willi die Schuhe. Und sag den Frauen, die Marke ist seit England da drin.
    Welche Marke?
    Frag deine Tante Erdmuthe. – Warte. Er notierte noch ein paar Zeilen.
    Er schrieb: Die Grüne Wituland ist im linken Schuh, hinterm Futter. Meine Not war manchmal groß, doch nie von der Art, dass mir Geld geholfen hätte. Vielleicht hilft es jetzt euch. Es tut mir leid. Ich konnte nicht bleiben. Verzeiht mir.
     
    Ob Willi die Schuhe jemals getragen hat? In den neunziger Jahren ist er gestorben. Eines natürlichen Todes, soweit man es natürlich nennen kann, wenn nach und nach dasganze Körpergewebe sich in Knochen umwandelt. Willi erstarrte, wie in Stein verwandelt.
    Helder erinnerte sich an gewisse Andeutungen. Der Name des Großvaters fiel, als die Eltern von Onkel Willis Beerdigung kamen. Auf der Trauerfeier war es offenbar zu einem heftigen Streit gekommen. Wie sich später herausstellen sollte, der Grünen Wituland wegen. Erdmuthe hatte die Schuhe an sich genommen, vielleicht schon damals in der Absicht, für Helder eine Erbschaft vom Großvater zu inszenieren.

Nachspiel
    Hans Kaspars Schuhe standen auf dem Stuhl im Saal des Gasthofes »Alt-Brandt«. Gegenüber saßen Rosa und Bertram Helder, die an diesem Tag ihre Goldene Hochzeit begingen. Alles schwieg und blickte auf Helder, gespannt, was da wohl folgte. Die Mutter rot wegen der Peinlichkeit, die ihr Sohn da veranstaltete. Und der Vater blass.
    Helder zögerte. Senkte den Kopf und begann nachzudenken. Noch könnte man die Angelegenheit mit einem Scherz abtun: Großvater Hans wollte auch dabei sein heute … etwas in der Art … Er könnte später … oder morgen …
    Nein, er konnte nicht zurück: wenn nicht jetzt, dann nie.
    Großmutter Erdmuthe nickte aufmunternd herüber.
    Es ist, dachte Helder, doch nur eine sachliche Frage:
    Wer hat im Juni 1940 der Polizei mitgeteilt, dass im Schuppen ein Pole saß?
    Das Schweigen blieb. Keiner sagte etwas.
    Hatte er das jetzt
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