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Der Kuss des Morgenlichts

Der Kuss des Morgenlichts

Titel: Der Kuss des Morgenlichts
Autoren: Leah Cohn
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genialsten Cellisten, dem ich je begegnet war, und der ausgerechnet mit mir, ja tatsächlich, mit mir, Sophie Richter, spielen wollte! Doch ich entschied mich dagegen. Nele hätte dann zwar besser verstanden, warum ich wie eine Verrückte geübt hatte, aber wahrscheinlich würde sie im Gegenzug ausführlich darüber diskutieren wollen, was ich beim gemeinsamen Spielen anziehen und wie ich mir die Haare machen sollte. Von so etwas hatte sie sehr genaue Vorstellungen, und wenn es um einen gutaussehenden Mann ging – ob begnadeter Cellist oder nicht –, dann erschien ihr ein verpatzter Rachmaninow als akzeptabel, ein mausgraues Outfit hingegen als unverzeihlich.
    Da sie aber nichts von meiner Verabredung wusste, verließ ich das Haus schließlich mit den üblichen Ballerinas, einem dunkelblauen Rock und einer weißen Bluse. Meine Haare hatte ich zu einem schlichten Zopf gebunden. Mindestens eine halbe Stunde zu früh traf ich im Mozarteum ein, und dort ging mir auf, dass ich gar nicht wusste, wo ich Nathanael Grigori eigentlich treffen sollte: Ich hatte mit ihm einen Zeitpunkt ausgemacht – oder genau genommen hatte er einen genannt und dabei vorausgesetzt, dass ich keine anderen Verpflichtungen haben würde –, doch wir hatten nicht besprochen, in welchem Überaum wir spielen würden. Ratlos ging ich im Gang auf und ab, bis ich mich entschied, ein wenig zu üben und später im Eingangsbereich auf ihn zu warten.
    Seit gestern Nachmittag arbeitete ich beharrlich an der Rachmaninow-Sonate. Ich hatte sie schon häufig gespielt, mich auch schon auf dem Cello daran versucht, aber es fehlte manches, damit es richtig »saß«, wie Professor Wagner es ausdrückte.
    Ich vertiefte mich in den dritten Satz, der mit einer längeren Passage für das Klavier beginnt – für mich einer der schönsten Teile überhaupt, nicht so melancholisch und düster wie andere, sondern sehr sanft, auch ein wenig wankelmütig, so, als hätte sich der Komponist nicht klar für Dur oder Moll entscheiden können.
    Wie immer, wenn ich für mich alleine spielte, wurde das Klavier zu meinem besten Freund. Meine Finger schienen mit den Tasten zu verschmelzen, die Musik erfüllte meinen Kopf, ja, meinen ganzen Körper. Die ganze Welt schien auf mich und das Instrument zu schrumpfen, und es gab nichts, was mich störte, einschüchterte, mir Angst machte. Für diese raren Momente, da ich mich vor niemandem beweisen musste, keiner Kritik ausgeliefert war, mich ganz meiner Leidenschaft hingeben konnte, lebte ich. Sie entschädigten mich für die Folter der öffentlichen Auftritte.
    Erst als ich innehielt, die Klänge verstummten und ich meine Hände von den Tasten zurückzog, packten mich wieder altbekannte Zweifel. Warum spielte ich im elften Takt nur ständig ein G anstelle eines Fis? Konnte sich bei meinem Tempo die Wirkung der Musik überhaupt entfalten? Und lagen in meinem Spiel auch nur annähernd so viel Gefühl, Atmosphäre und Magie wie in Grigoris Cello-Tönen?
    Ich überlegte, ob ich ihm nicht doch besser absagen sollte, anstatt mich hoffnungslos zu blamieren, doch vielleicht – mittlerweile hoffte ich das, anstatt es zu befürchten – hatte er es sich ohnehin anders überlegt und kam erst gar nicht. Also begann ich das Andante wieder von vorne, bis ich zu dem Takt kam, in dem das Cello einsetzte.
    Plötzlich riss ich meine Hände zurück – denn in diesem Augenblick war tatsächlich ein Cello erklungen, hatte ganz selbstverständlich in mein Spiel eingestimmt.
    Ich fuhr so ungestüm herum, dass ich fast vom Drehhocker fiel. Nathanael Grigori saß seelenruhig mit seinem Cello hinter mir; der offene Cellokasten stand neben ihm.
    »Wie … wie sind Sie denn hier hereingekommen?«
    Während des Übens hatte ich die Tür im Blick gehabt, und wenn ich auch sehr konzentriert gewesen war, so hätte ich doch jederzeit gemerkt, wenn jemand den Raum betreten hätte.
    Die Andeutung eines Lächelns verzog seine Lippen. Das Blau seiner Augen erschien mir noch strahlender und intensiver, als ich es in Erinnerung hatte. Er trug dieselbe schwarze Hose wie bei unseren ersten Begegnungen, aber anstelle des grauen Pullovers ein weißes Hemd. Seinen weiten Mantel hatte er abgelegt.
    »Sie waren so versunken in Ihr Spiel – Sie haben mich gar nicht bemerkt.«
    Es fiel mir schwer, das zu glauben, aber es wäre mir lächerlich erschienen, mit ihm darüber zu diskutieren. Vielleicht … vielleicht hatte ich tatsächlich für ein paar Sekunden nicht
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