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Der Kuss des Morgenlichts

Der Kuss des Morgenlichts

Titel: Der Kuss des Morgenlichts
Autoren: Leah Cohn
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war, tat er mir leid, und im nächsten Augenblick kniete ich mich hin, um die Noten einzusammeln. Als ich mich erhob und sie ihm reichte, sah ich, dass ihm der Schweiß auf der Stirn stand.
    »Danke«, murmelte er zögerlich. Der Kaffee war über die Tasse geschwappt. Anstatt die Noten endlich entgegenzunehmen, kramte er mit der freien Hand erst umständlich seine Geldbörse aus der Hosentasche, um zu zahlen. Ich konnte mir das Grinsen über so viel Tollpatschigkeit kaum verbeißen und legte ihm die Noten auf einen der Tische. Es dauerte eine Ewigkeit, bis er endlich die Tasse dorthin gebracht hatte; in der Zwischenzeit war noch mehr Kaffee über den Tassenrand geschwappt.
    Wäre Nele hier gewesen, hätte sie sich mit spitzer Zunge über ihn lustig gemacht. Sie hatte Spaß daran, pointenreiche Witze über Musiker zu reißen, als wäre jeder Mensch, der ein Instrument spielt, im sonstigen Leben ein grenzdebiler Trottel. Immerhin war sie großzügig genug, bei mir eine Ausnahme zu machen. Ich war schließlich auch diejenige, die unseren Kühlschrank füllen, das Wohnzimmer aufräumen und regelmäßig das Bad putzen durfte.
    »Danke«, wiederholte er, stellte sich als Matthias Steiner vor und fragte unvermittelt: »Und du bist Sophie Richter, nicht wahr? Du spielst bei Professor Wagner?«
    Ich nickte rasch, grinste nicht länger über seine Ungeschicklichkeit, sondern war verlegen, weil er von mir gehört zu haben schien. Warum nur? Was hatte Professor Wagner über mich gesagt? Dass ich zwar begabt sei, aber nicht gut genug, um öffentlich zu spielen? Dass es ein Fehler war, mich als seine Schülerin zu akzeptieren?
    Ich senkte den Kopf, versuchte übliche Ängste zu unterdrücken oder zumindest nicht offen zu zeigen, und da erst entdeckte ich Nathanael. Er stand in einiger Entfernung im Eingangsbereich der Mensa und hatte uns von dort aus beobachtet. Ein Lächeln spielte um seinen Mund so wie gestern – nur dass es heute nicht kalt, sondern spöttisch wirkte. Seine Augen erschienen im matten Licht nicht ganz so strahlend hell, aber dennoch konnte ich nicht verhindern, dass ich seinen Blick gebannt erwiderte. Langsam schlenderte er, den Cello-Kasten auf seinem Rücken, auf uns zu. Er trug dieselbe Kleidung wie gestern: eine schwarze Hose und einen grauen Pullover, darüber einen dunklen, weiten Mantel.
    »Stell dir vor«, rief ihm Matthias Steiner entgegen, »sie spielt bei Professor Wagner. Ein guter Mann.« Er wollte offenbar eine längere Lobeshymne anstimmen, aber Grigori kam ihm zuvor.
    »Ich weiß«, sagte er schnell. »Sophie Richter, nicht wahr?« Er nickte mir knapp zu. Blut schoss mir ins Gesicht. Woher kannte auch er meinen Namen? Hatte er sich gestern womöglich erbost erkundigt, wer ihn beim Cellospielen gestört hatte?
    Allerdings – seine Stimme hatte eben nicht unfreundlich geklungen.
    »Willst du auch einen Kaffee?«, fragte Matthias.
    Ich verneinte rasch, um dann zu meiner großen Verlegenheit festzustellen, dass die Frage nicht mir, sondern Grigori gegolten hatte. Dieser schüttelte den Kopf; wie gestern fiel ihm eine seiner dunkelbraunen Haarsträhnen in die blasse Stirn, und er strich sie rasch zurück.
    »Vielleicht«, setzte er unvermittelt an und fixierte mich mit seinen blauen Augen, »vielleicht können wir einmal zusammen spielen?«
    Er hob die Stimme kaum, irgendwie klang sie rauchig. Ein Kribbeln überzog meine Unterarme, wanderte über meinen Rücken hoch bis zum Nacken.
    Matthias griff zum Zucker und schüttete ihn so schwungvoll in seine Kaffeetasse, dass er die kleinen weißen Körner auf der ganzen Tischplatte verteilte. Ich starrte darauf, als ich um eine Entscheidung rang. Allein die Möglichkeit, mit Nathanael zu spielen, trieb meinen Blutdruck in die Höhe, und genau darin lag das Problem. Wenn ich schon rot anlief, wenn er nur mit mir sprach – wie sollte ich dann erst mit ihm musizieren?
    »Immer Ihre schwachen Nerven!«, hörte ich Professor Wagners Stimme in meinem Ohr. Ich hätte doch so eine hervorragende Technik, so viel Gefühl, ein außergewöhnlich feines Gehör, und in der Musiktheorie sei ich ohnehin eine der Besten. Aber diese schwachen Nerven …
    Wenn er das heftig gestikulierend beklagte und den Kopf so lange schüttelte, bis ihm sein sprödes, weißes Haar wirr in alle Richtungen abstand, hätte ich mich am liebsten tausend Mal dafür entschuldigt. Ändern konnte ich es allerdings nicht: Ich wollte Pianistin werden, weil ich das Klavier liebte – nicht die
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