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Der Kuss des Morgenlichts

Der Kuss des Morgenlichts

Titel: Der Kuss des Morgenlichts
Autoren: Leah Cohn
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dieser Gelegenheit spielte ich manchmal mit einer Cellistin aus Hamburg.
    »Ja«, sagte ich rasch und überlegte fieberhaft, wie ich sie loswerden konnte, ohne zu unhöflich zu wirken. »Aber einen Nathanael Grigori kenne ich nicht«, fügte ich rasch hinzu – allerdings nicht mit der Wirkung, die ich bezweckt hatte.
    »Mein Gott, Sophie!«, stieß Hanne theatralisch aus und blies mir ihren Pfefferminzatem noch heißer ins Gesicht. »In welcher Welt lebst du eigentlich? Nathanael Grigori hat dieses Jahr den Leonard Bernstein Award bekommen!«
    Das war tatsächlich einer der wichtigsten Musikpreise für Nachwuchskünstler.
    »Und das ist noch nicht alles«, fuhr Hanne fort, »dazu kommt der erste Platz beim Leonard-Rose-Violoncello-Wettbewerb, der Eugene-Istomin-Preis, und vor einigen Jahren wurde er von ›Pro Europa‹ als bester Nachwuchsmusiker geehrt. Stell dir vor, er soll schon im Alter von elf Jahren an der Yehudi Menuhin School in London aufgenommen worden sein!«
    »Und was macht er hier in Salzburg?«, wollte ich wissen.
    Sie zuckte mit den Schultern und begann umständlich an ihrem Halstuch herumzuknoten. »Keine Ahnung. Vielleicht hat er im Sommer irgendein Engagement bei den Festspielen. Oder er will ein paar Stunden bei einem der Profs nehmen. Ich weiß gar nicht, ob er sein Studium überhaupt schon abgeschlossen hat – so jung wie er ist. Höchstens Mitte zwanzig.«
    Meine Ungeduld wuchs.
    »Ich muss üben … «, wiederholte ich.
    »Ach, guck ihn dir an! Mal abgesehen von der Musik – so einen Mann sieht man nicht oft. Der ist auch für ein blindes Küken wie dich eine Augenweide.«
    Blindes Küken. War mal etwas anderes als »Japanerin«. Allerdings lief es aufs Gleiche hinaus: Ich war langweilig. Niemand wechselte mehr Worte als nötig mit mir. Niemand hatte Lust, sich mit mir abzugeben.
    Ich unterdrückte das schmerzhafte Gefühl der Kränkung, das in mir aufstieg, indem ich die Lippen zusammenpresste – und verpasste somit die Gelegenheit, rechtzeitig vor Hanne zu fliehen. Ehe ich mich dagegen wehren konnte, zog sie mich schon mit sich, und ich folgte ihr, einerseits weil ich hoffte, sie auf diese Weise schneller loszuwerden, andererseits weil ich mich scheute, ihrer herrischen Art etwas entgegenzusetzen. Hannes warme, große Hand auf meinem Arm zu fühlen war mir unangenehm. Aber ich wäre lieber gestorben, als ihr das zu zeigen.
    Im Gehen erzählte sie mir noch mehr von Nathanael Grigori. »Er hat schon mit vielen großen Orchestern gespielt. Vor kurzem hatte er einen Auftritt mit der Sinfonia Varsovia und dann mit dem Deutschen Kammerorchester. Ich habe auch gehört, dass er ein Konzert in der Royal Festival … «
    Unvermittelt brach sie ab. Oder vielleicht brach sie gar nicht ab, sondern ich hörte sie bloß nicht mehr, weil etwas anderes meine Aufmerksamkeit voll und ganz auf sich zog.
    Hanne war nicht die Einzige, die Nathanael Grigori spielen hören wollte. Vor einem der Überäume hatte sich eine regelrechte Traube gebildet, die immer weiter wuchs. Die Tür stand weit offen, doch niemand wagte, die Schwelle zu übertreten. Nur Hanne war so unverfroren, dass sie sich an den anderen vorbeidrängte und mich mit in den Raum zog. In diesem Augenblick konnte ich mich nicht dagegen wehren – wie paralysiert horchte ich auf die Klänge, die mir entgegenschallten.
    Sergej Rachmaninow.
    Neben Strawinsky und Chopin war er mein liebster Komponist. Und der, dem ich am wenigsten gerecht wurde, wie ich oft befürchtete. Bei einem Musikwettbewerb vor einigen Jahren hatte ich das zweite Klavierkonzert gespielt, und obwohl ich den dritten Platz belegt hatte, war ich noch Tage später im Kopf all die Stellen durchgegangen, die ich viel besser hätte spielen können, ja müssen ! Bei einem meiner Auftritte am Mozarteum hatte ich dann die »Variationen über ein Thema von Chopin, Opus 22« vorgetragen, und als Professor Wagner hinterher mit begeistertem Gesicht auf mich zukam und »Ausgezeichnet! Ausgezeichnet!« rief, fühlte ich mich weder erleichtert noch geschmeichelt, sondern dachte nur: Er lügt. Das sagte ich ihm selbstverständlich nicht, sondern versuchte glücklich und befreit zu lächeln, und er schien nicht zu merken, wie halbherzig und angespannt mir dieses Lächeln geriet. Seiner Lobesrede, die er auf mich, seine jüngste Studentin, im Kreise seiner Kollegen hielt, konnte ich kaum folgen. Ich hab’s vermasselt, dachte ich pausenlos. Wie immer, wenn ich öffentlich spielte, war es mir nicht
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