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Der Kuss des Morgenlichts

Der Kuss des Morgenlichts

Titel: Der Kuss des Morgenlichts
Autoren: Leah Cohn
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gelungen, mein ganzes Können zu beweisen. Ich war nicht gut. Nicht gut genug .
    Nathanael Grigori und sein Begleiter spielten soeben Rachmaninows Sonate für Klavier und Cello in g-Moll. Ich hörte sie nicht zum ersten Mal, und ich wusste, wie viele Tücken dieses Stück hatte – nicht nur, was die Technik, sondern vor allem, was die Interpretation anging. Bei keinem anderen Komponisten ist die Grenze zwischen Melancholie und Kitsch so schmal. Man kann sich dieser Musik nicht nüchtern und sachlich annähern. Doch wenn man sich diesem dunklen, traurigen, zornigen Gefühlsleben des Russen zu vorschnell überlässt, droht man zu übertreiben. Gerade bei meiner Lieblingssequenz im ersten Satz ist es verführerisch, in gefühlstriefende Filmmusik abzugleiten, anstatt diese tiefe Sehnsucht zu entfachen, eine schmerzliche und bittersüße, nicht überzuckerte.
    Nathanael Grigori traf es exakt. Mich überwältigte der Facettenreichtum von unterschiedlichen Klangfarben und -nuancen, die ich bis dahin nie wahrgenommen hatte. Grigoris Cello sprach zu mir – weich und samtig, heiser und raunend, durchdringend und dunkel, stöhnend und seufzend, zärtlich und glockenhell, ja, all das zugleich.
    Musik war mein Leben; alles, was ich tat, war auf diese eine große Leidenschaft ausgerichtet. Doch selten war es ein so intensives körperliches Erlebnis gewesen, ihr zu lauschen. Ich hatte weiche Knie und feuchte Hände, meine Lippen bebten, und mein Puls ging in ungeahnte Höhen, als das Cello und das Klavier endlich verstummten.
    Bis zu diesem Augenblick hatte ich Nathanael Grigori nicht angesehen. Seit Hanne mich in den Raum gezogen hatte, war mein Blick starr auf den Boden gerichtet geblieben, als könnten meine Sinne, die derart aufs Hören ausgerichtet waren, nicht noch mehr Reize ertragen.
    Nun glitt mein Blick zunächst auf den Klavierspieler. Er wirkte erschöpft, wischte sich mit einem Tuch über das stark verschwitzte Gesicht und glich weniger einem Pianisten denn einem Bauarbeiter. Kurz rechnete ich damit, dass womöglich auch Nathanael Grigori einen ganz banalen Anblick bot, dass sein Äußeres mit der Wucht und dem Zauber der Musik, die er entfesselt hatte, nicht mithalten könnte und darum zwangsläufig enttäuschen müsste. Aber ich konnte nicht anders, als ihn anzublicken.
    Hanne hatte nicht übertrieben. Selbst einem blinden Küken wie mir konnte nicht entgehen, wie unglaublich gutaussehend er war, wenn auch nicht auf diese männliche, körperliche Art wie zum Beispiel Juan. Juan Callisto war ein Jura-Student aus Madrid, dessen Affären mit Kommilitoninnen meist nur eine Woche lang dauerten. Nele hatte es auf zwei Wochen gebracht, worauf sie unglaublich stolz war, und in dieser Zeit hatte ich Juan mehrmals halbnackt in unserem Bad angetroffen. Ich hatte immer sofort verlegen den Blick gesenkt, aber sein Six-Pack-Bauch über der tief sitzenden Jeans war mir nicht entgangen. Er war tief gebräunt, lebens- und kraftstrotzend und glaubte wohl, dass das genügte, um andere für sich einzunehmen. Nette, höfliche Worte bekam ich von ihm zumindest nie zu hören, was vielleicht auch daran lag, dass er immer – sogar im Badezimmer – eine Zigarette zwischen seinen vollen Lippen klemmen hatte.
    Nathanael Grigori hingegen war mit seinem etwas zu schmalen und etwas zu blassen Gesicht, den dunklen Ringen unter den Augen und der sehnigen und schlanken Statur auf eine anachronistische, dekadente Weise schön. Schauspieler mit diesem Äußeren werden als Helden in Kostümschinken besetzt, wobei sie nicht den flinken und gewitzten Zorro mit Degen geben, sondern den feinsinnigen Dandy in der englischen High Society des 18. Jahrhunderts. Dort spielen sie nachdenklich Schach, schreiben Gedichte auf der nackten Haut ihrer Geliebten oder ergehen sich in romantischen Vorstellungen über den Tod, der zeitnah eintritt, gerne als Folge einer malerisch inszenierten Schwindsucht, nicht etwa eines banalen Reitunfalls. So einen Film hatte ich kürzlich mit Nele gesehen, und ich hatte während der Pizza danach für den Hauptdarsteller geschwärmt. Nele meinte, dass so ein Mann gar nichts für sie wäre, den könne man ihr umbinden, und es täte sich nichts, aber sie grinste gutmütig, weil sie mich zum ersten Mal so begeistert von einem Mann reden hörte. Das ließe die Hoffnung zu, dass ich nicht irgendwann als völlig verstaubte Klavierlehrerin à la Fräulein Rottenmeier enden würde.
    »Fräulein Rottenmeier hat nicht Klavier
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