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Der Kuss des Morgenlichts

Der Kuss des Morgenlichts

Titel: Der Kuss des Morgenlichts
Autoren: Leah Cohn
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liebkost hatte: stärker, entschlossener, geübter darin, den Stürmen des Lebens standzuhalten. Und umgekehrt erwachte jetzt in mir das Mädchen von einst, das von allem, was ihm passiert, überwältigt wird, das sich starken Gefühlen und Empfindungen ohne Rücksicht auf Verluste hingibt, das ohne Vorbehalte lieben kann.
    Einen Unterschied gab es: Damals hatte so viel Hast in unseren Bewegungen gelegen, als wir uns die Kleider von unseren Körpern rissen. Heute zogen wir uns langsam aus, fast ehrfürchtig. Als wir nackt waren, hielten wir kurz inne, anstatt uns sofort aneinanderzuschmiegen, uns gedankenlos im anderen zu verlieren. Dieser Augenblick war zu kostbar, um ihn dem Rausch, der Gier zu opfern, um ihn nicht ausreichend zu würdigen, zu zelebrieren.
    Nur zögernd streichelte ich schließlich über seinen Körper, erforschte ihn Stück für Stück, überließ dann den meinen seinen Händen, seinen Lippen, seiner Zunge. Gerade diese Langsamkeit erweckte viel mehr Leidenschaft, als blinde Hast es jemals hätte tun können. Gedanken verstummten, Erinnerungen verblassten. Zurück blieb nur der Drang, uns zu lieben und uns zu halten, uns zu küssen und uns zu streicheln, der Drang zu brennen, zu zucken und zu erschaudern, zu frieren und zu glühen, loszulassen und sich wieder zu vereinen, sich krampfhaft zu umkrallen und sich entspannt fallen zu lassen. Keine Regel gab es, keine Grenzen, nur den Wunsch, möglichst viel davon zu bekommen, möglichst lange, möglichst ohne Pause.
    Als wir erschöpft ineinander verschlungen lagen, sprach er die Worte von einst.
    »Ich liebe dich, Sophie.«
    Ich versuchte zu lächeln, und es gelang mir auch, aber zugleich traten mir Tränen in die Augen und verschleierten meinen Blick.

    Ich schlief in dieser Nacht nur wenig und fühlte mich am nächsten Morgen doch frisch und ausgeruht. Wir sprachen nicht miteinander – so viel war bereits gesagt worden –, genossen nur, zumindest für diesen kurzen Augenblick, ein unaufgeregtes, stilles Glück. Als ich aus der Dusche kam, hatte Nathan Kaffee gemacht – nur für mich, er selbst begnügte sich mit Wasser –, und so saßen wir in der Küche, ich mit meiner Tasse, er mit seinem Glas, und betrachteten uns liebevoll.
    Erst nach einer Weile packte ihn die Unruhe. Er stand auf und sagte: »Komm, lass uns fahren!«
    Der Arzt hatte gestern erklärt, dass Aurora erstmals für längere Zeit aufstehen und diese am besten in der frischen Luft verbringen sollte – vielleicht bei einem Spaziergang im Park des Krankenhauses. Als ich daran dachte, sah ich uns drei ganz deutlich vor mir. Aurora würde noch schwach sein und der weiße Verband um ihren Kopf an die schwere Verletzung erinnern, aber sie würde es genießen, wieder warme Sonne auf ihrer Haut zu spüren. Nathan und ich würden rechts und links von ihr gehen, würden sie stützen und an den Blumenbeeten vorbeiführen. Wenn man uns sehen würde, würde man uns für eine Familie halten, eine glückliche, kleine Familie.
    Ich stand auf und folgte ihm ins Freie. Die Morgenluft war noch kühl, sie fuhr durch meine noch nicht ganz trockenen Haare.
    Vorsichtig wanderte mein Blick hoch zu Caspars Grundstück. Die großen Glasfenster des Hauses wirkten nicht einladend und licht, sondern reflektierten die hohen, dunklen Hecken. Wem sein Anwesen wohl bald gehören würde?
    Nathan war meinem Blick gefolgt. »Er kann uns nichts mehr tun«, sagte er ruhig.
    »Ja«, murmelte ich, und ich dachte im Stillen: Aber andere … gewiss gibt es andere, die uns etwas tun können … Schlangensöhne, die es auf dich abgesehen haben … oder deren Interesse Aurora gilt … vorausgesetzt, dass in ihr noch die künftige Nephila schlummerte … was wir nicht wissen …
    Wie schon gestern, begannen sich die Fragen im Kreis zu drehen und verdüsterten meine Miene: Was sollten wir tun? Wie uns entscheiden? Was war des Beste für Aurora, für mich, für ihn?
    Immer noch wusste ich keine Antwort, immer noch fühlte ich mich zerrissen von so viel Bedenken … aber dann sah ich das Bild von uns dreien im Krankenhausgarten wieder ganz deutlich vor mir.
    Morgen mussten wir eine Entscheidung treffen, aber noch nicht heute.
    Ich zog Nathan zum Auto.
    Heute gehörte uns.
    Wir würden den Tag mit Aurora verbringen und uns über ihre Fortschritte freuen, wir würden am Abend heimkehren, etwas zu essen machen, während des Sonnenuntergangs im Garten sitzen und uns die ganze Nacht über lieben.
    Nathan hatte so lange gelebt, an
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